Der letzte Tag

[284] Über Schleswig-Holstein hängen fast immer Wolken. Meistens ist es bis dicht vorm Weihnachtsfest feucht und warm. Erst unmittelbar vor den Feiertagen oder in ihnen fängt es an zu frieren. In diesem Jahr trat ein gelinder Frost in der Nacht vom sechzehnten bis zum siebzehnten Dezember ein. Am nächsten Tag fiel ein wenig Schnee, der nur eben die Erde bedeckte. Die Jäger nennen ihn Spurschnee.

Für den sechzehnten Dezember hatte sich die spanische Herzogin Diana von Fuentes, Markgräfin von Lerma, in Tangbüttel angesagt. Sie war auf der Durchreise zu einem ihrer Verwandten bei der spanischen Gesandtschaft in Kopenhagen. Kai war früher einige Male der gern aufgenommene Gast ihrer Eltern in Madrid gewesen. Er hatte sie nur als Kind gekannt. Seit fünf, sechs Jahren war sie verheiratet.

Kai hatte sie auf dem Hauptbahnhof in Hamburg mit seinen vier hellbraunen Orlowtrabern abgeholt. Die junge Herzogin fuhr mit ihm allein nach Tangbüttel. Sie hatte nur eine Kammerjungfer dahin mitgenommen,[284] die mit Chrischan Mehrens auf dem Gepäckwagen saß. Ein köstliches Paar: Der gute hellblonde holsteinische Kutscher Chrischan Mehrens aus Stapelfeld und die kleine schwarzlockige Anita aus Barzelona, die sich voller Schauder umsah, als sie in der Dämmerung durch die kahlen Felder rollte, und die sicher glauben mochte, sich bedenklich dem Nordpol zu nähern.

Das ganze übrige Gefolge der Herzogin war im Hôtel d l'Europe untergebracht.

Für diesen Abend und für den folgenden Tag, den die Herzogin in Tangbüttel bleiben wollte, war kein besonderer Aufwand geschehn. Alles blieb in der täglichen Weise. Nur wurde der Vorbrüggensche Silberschatz herausgenommen und fand seine Aufstellung auf der Tafel. Ein alter prächtiger Schatz mit künstlerischen Schalen und Schüsseln und Aufsätzen, die die dänischen Vorbrüggen in den letzten Jahrhunderten gesammelt hatten.

Die Herzogin war lebhaft und fröhlich, eine echte Spanierin. Sie behauptete, wie alle alten spanischen Geschlechter, von den Goten abzustammen, aus einem baltischen Königsgeschlecht. Kai machte sie deshalb lachend darauf aufmerksam, daß sie sich im Lande ihrer Ahnen befände, das sich von hier, an der ganzen Ostseeküste, bis nach Livland und Estland erstrecke.

Da sie sich übermüdet fühlte, ging die Herzogin früh zur Ruhe.

Die neunundneunzig Lichter brannten auf den Gängen und Treppen. Kai hatte sie gleich nach seiner Besitzergreifung von Tangbüttel abgeschafft, wie auch[285] die zahlreiche Dienerschaft aus Enewolds Zeit. Seit einigen Jahren aber brannten jede Nacht die neunundneunzig Lichter wieder. Auch hatte Kai seit derselben Zeit abermals eine große Dienerschaft, mit einem Haushofmeister an der Spitze, im Schloß angestellt, die eigentlich so gut wie nichts zu tun hatte und sich deshalb langweilte. Weshalb er es getan hatte, wußte er, der sonst gänzlich anspruchslos und einfach lebte, wohl selbst nicht recht. Vielleicht aus dem Grunde, daß er sich sagte, er müsse sich doch wenigstens in einer Färbung seinen Überfluß vor Augen führen.

Der siebzehnte Dezember fing mit Wolken an, die sich um acht Uhr am Himmelsrand hoben und im Osten einen dunkelbraungelben Streifen zeigten. Bald kam die Sonne durch und blieb den ganzen Tag die Siegerin. Als sie untergegangen war, trat aus dem Dunkel ein klarster, funkelnder Sternenhaufe.

Kai war auch an diesem Morgen, wie er es gewohnt war von alters her, um halb fünf aufgestanden und hatte sich um fünf Uhr in die gedeckte Bahn begeben, die jeden Morgen, ob er kam oder nicht, taghell erleuchtet sein mußte. Er ritt zwei Pferde und ging wieder ins Schloß zurück. Hier setzte er sich, nachdem er sich eine Viertelstunde ruhig in einen Stuhl gelehnt hatte, an seinen Schreibtisch, um sich mit Brentano zu beschäftigen, den er in diesen Wochen viel las. Vorher hatte er sich umgekleidet.

Seit einigen Jahren hatte Kai begonnen, eine Sammlung von Gedichten zu ordnen, von Lyrikern des neunzehnten Jahrhunderts. Er wollte diese Sammlung[286] für sich drucken lassen und nur an einzelne Freunde verteilen. Nach langer Wahl hatte er von Clemens Brentano drei Gedichte gewählt für sein Buch. Das erste hieß: O lieb Mädel, wie schlecht bist du. Er las es sich laut vor und wurde von neuem erschüttert durch die wilde Schönheit und durch den leidenschaftlichen Klang dieses Liedes.


O lieb Mädel, wie schlecht bist du!

Die Welt war mir zuwider,

die Berge lagen auf mir,

der Himmel war mir zu nieder,

ich sehnte mich nach dir, nach dir.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Ich trieb wohl durch die Gassen

zwei lange Jahre mich;

an den Ecken mußt ich passen

und harren nur auf dich, auf dich.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Und alle Liebeswunden,

die brachen auf in mir,

als ich dich endlich gefunden,

ich lebte und starb in dir.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du


Ich hab vor deiner Türe

die hellgestirnte Nacht,

daß dich mein Lieben rühre,

oft liebeskrank durchwacht.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Ich ging nicht hin zum Feste,

trank nicht den edlen Wein,

ertrug den Spott der Gäste,

um nur bei dir, bei dir zu sein.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!
[287]

Bin zitternd zu dir gekommen,

als wärst du ein Jungfräulein,

hab dich in Arm genommen,

als wärst du mein allein, allein.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Wie schlecht du sonst gewesen,

vergaß ich liebend in mir,

und all dein elendes Wesen

vergab ich herzlich dir, ach dir.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Als du mir einst gegeben

zur Nacht den kühlen Trank,

vergiftetest du mein Leben,

da war meine Seele so krank, so krank.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Bergab bin ich gegangen

mit dir zu jeder Stund,

hab fest an dir gehangen

und ging mit dir zu Grund.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Es hat sich an der Wunde

die Schlange festgesaugt,

hat mit dem giftigen Munde

den Tod in mich gehaucht.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Und ach, in all den Peinen

war ich nur gut und treu!

Daß ich mich nannte den Deinen,

ich nimmermehr bereu.

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Er schrieb sich immer selbst das Gedicht ab, wenn er endgültig entschieden hatte.[288]

Um halb acht Uhr klingelte er seinem Kammerdiener und bat wieder um seinen Reitanzug, ohne Sporen: die kleine arabische Schimmelstute Dschemmadschwissa solle vorgeführt werden. Der Kammerdiener geriet innerlich in Staunen über den Wunsch seines Herrn, denn seit Jahren hatte Kai dies Pferd nicht mehr befohlen. Die alte kleine, feine arabische Schimmelstute hatte ihren Namen Dschemmadschwissa tatsächlich über ihrem Stande stehen. Jedenfalls war der Name aus Versehen unrichtig angegeben und geschrieben. Kai nannte sie Dschemma; im Stall und unter den Landbewohnern der Umgegend hieß sie Dat Hemd is twischen. Wie sich denn das Volk oft in köstlicher, humorvoller Art fremdländische Namen in seiner natürlichen Ausdrucksweise zurecht legt.

Welch ein Geschöpfchen war diese arabische Schimmelstute. So voller Zartgefühl, daß sie keiner von jeher mit Sporen reiten durfte. Der geringste Zinkendruck brachte sie außer sich. Alle gingen mit ihr um wie mit einem Menschen. Sie konnte nur von Liebkosungen leben. Besonders wußte Kai sie zu nehmen. Wenn er zu ihr ging und seine Arme, vor ihr stehend, um ihren Hals legte, war es, als wenn sie ihren Kopf an seinen Kopf lehnen müßte. Zuweilen, bei sehr schönem Wetter, ließ er sie im Sommer in den großen Garten, wo sie auf dem Rasen weidete. Saßen er und die Seinen draußen, kam sie heran und blieb wie ein Hund bei ihnen. Ja, was wohl kaum je bei einem Pferde in so auffallender Weise bemerkt worden ist: sie legte sich bei den Kindern oder bei der Gräfin, oder, waren[289] Gäste da, bei den Gästen ruhig nieder, als gehöre sie ganz und gar zu den Menschen. Je älter sie wurde, je zutraulicher wurde sie. Auch mit all den vielen Hunden, die Kai immer um sich haben mußte, war sie guter Kamerad. Namentlich ließ der mürrische Mainzer Pintscher Dschokkel nicht von ihr, Tag und Nacht.

Als sie nun an dem kalten Wintertag so früh gesattelt und vor die Schloßtür geführt wurde, schien ihr die Sache auffallend zu sein. Sowie aber Kai aus dem Herrenhaus getreten war, mit vielem Zucker, drehte sie ihren Kopf zu ihm und wieherte, was sie fast nie tat. Kai legte ihr, sich vor sie hinstellend, die Arme um den Hals. Nun war sie ganz und gar beruhigt und trug ihn sanft weg.

Kais Kammerdiener, der den in Schleswig-Holstein so gut wie unbekannten Namen Josef (er war aus Wien) führte, war mit hinausgetreten. Als der Graf vom Hofe ritt, ging er zum Reitknecht, der die Stute gebracht hatte, und zu einigen Dienern, die sich hinter der Tür zurückgehalten hatten: Alle besprachen den merkwürdigen Fall, daß Kai die kleine Schimmelstute verlangt habe. Wenn er in der Bahn gewesen war, ritt er überhaupt nicht mehr an dem Tage aus.

Kai bog nicht um den Park, um nach Wilstedt und nach der Henstedter Haide zu traben, sondern nahm seinen Weg durchs Dorf. Das kannten die Bewohner kaum mehr.

Im Osten lag der breite dunkelgelbe, schmutzig-braungelbe Streifen am Himmelsrand, den eine mächtige graulila Wolke darüber begrenzte. Kai hielt Dschemma[290] an und mußte lange hineinsehen. Weiter, bis er vor Pukaff ankam. Hier stieg er ab und ging in die Gaststube. Von den beiden fleißigen jungen Wirtsleuten, Mann und Frau, hielt er viel. Nur die Frau mit einem dreijährigen Kinde empfing ihn, höchst verwundert, ihn so früh schon in Pukaff zu sehen. Kai lachte sie aus. Er sah zum Fenster hinaus auf die Lehmsaler Haide und auf die Hünengräber. Und auf die beiden Bohlenwege, die man vor kurzem noch in ganz gutem Zustande gefunden hatte. Vergeblich rätselten die Gelehrten daran herum, in welche Zeitrechnung sie zu setzen seien.

Unendlich melancholisch lag die Haide vor ihm. Sein Herz ward ihm schwer, ohne zu wissen, weshalb. Da trat Jan Steen, der Torfbauer, ein. Kai bat ihn, mit ihm ein Glas Grogk zu trinken, und lauschte mit Gutmütigkeit und Humor Jan Steens Erzählungen. Nachdem er noch mal das Kindchen, das sich ihm willig gab, auf den Arm genommen hatte, verabschiedete er sich. Vorher hatte er noch den Wirt rufen lassen, mit dem er allerlei über den Kriegerverein besprach. Dafür hatte er immer offnes Herz und offne Hand. Seine Hauptanteilnahme galt, wie das natürlich war, den Veteranen, mit denen er die Schlachten durchgekämpft hatte: in Schleswig-Holstein den Veteranen des deutsch-französischen Krieges.

Er ritt in den Wald und blieb dort wohl zwei Stunden. Bis er zwischen zehn und elf Uhr vorm Schloß erschien und aus dem Sattel sprang.

Alle Wolken waren verzogen. Ein windstiller[291] Wintertag, mit leiser Schneedecke, breitete sich über Tangbüttel und Umgegend.

Als Kai ins Schloß trat, kam eilig ein Reitknecht angegangen und bat auf Anweisung des Herrn Stallmeisters, ob Kai nicht so gut sein wolle, in die Bahn zu kommen: der kleine Wittekopp möchte sich dem Vater zeigen. Kai ging sofort hin und freute sich von Herzen über sein siebenjähriges Söhnchen, der seine Beinchen über einen dicken Norbakker, der eine dichte, zottige Mähne schüttelte, gespannt hatte. Wahrhaftig, wie saß der Bengel schon zu Pferde! Sogar einige Gänge machte er in der Bahn, wenn auch das Pferdchen nicht grade Lust und große Fähigkeit dazu zu haben schien. Kai lobte sein Söhnchen, der seinen Nacken stolz hob und sich aufs kräftigste bemühte, sich von der besten Seite seinem Vater vorzustellen.

Während Kai zurückging über den Hof, fuhr ihm durch den Kopf: Zwei Dinge müßte jeder Knabenerzieher so früh wie möglich beginnen: Reiten und französisch lehren.

Kai ließ sich sofort umkleiden und machte sich wieder an die Arbeit. Er entschloß sich endgültig, als zweites Gedicht von Brentano aufzunehmen: Einsam will ich untergehn.




Einsam will ich untergehn

Einsam will ich untergehn,

keiner soll mein Leiden wissen;

wird der Stern, den ich gesehn,

von dem Himmel mir gerissen,

will ich einsam untergehn

wie ein Pilger in der Wüste.
[292]

Einsam will ich untergehn

wie ein Pilger in der Wüste!

Wenn der Stern, den ich gesehn,

mich zum letzten Male grüßte,

will ich einsam untergehn

wie ein Bettler auf der Haide.


Einsam will ich untergehn

wie ein Bettler auf der Haide!

Gibt der Stern, den ich gesehn,

mir nicht weiter das Geleite,

will ich einsam untergehn

wie der Tag im Abendgrauen.


Einsam will ich untergehn

wie der Tag im Abendgrauen!

Will der Stern, den ich gesehn,

nicht mehr auf mich niederschauen.

will ich einsam untergehn

wie ein Sklave an der Kette.


Einsam will ich untergehn

wie ein Sklave an der Kette!

Scheint der Stern, den ich gesehn,

nicht mehr auf mein Dornenbette,

will ich einsam untergehn

wie ein Schwanenlied im Tode.


Einsam will ich untergehn

wie ein Schwanenlied im Tode!

Ist der Stern, den ich gesehn,

mir nicht mehr ein Friedensbote,

will ich einsam untergehn

wie ein Schiff in wüsten Meeren.
[293]

Einsam will ich untergehn

wie ein Schiff in wüsten Meeren!

Wird der Stern, den ich gesehn,

jemals weg von mir sich kehren,

will ich einsam untergehn

wie der Trost in stummen Schmerzen.


Er kannte das Gedicht seit Jahren; nie hatte es ihn so furchtbar ergriffen, wie eben, als er es sich vorgelesen hatte. Mit leiser, schneller, einförmiger, ganz gleichmäßiger Stimme, nur in jeder Strophe das eine Wort Stern ein wenig langsamer abhebend. Das Gedicht klang wie ein hoffnungsloses Sklavenlied aus Gefängnistiefen. Er legte seinen Kopf in die Hände. Fast wäre er zusammengebrochen. Während er seine Tränen überwand und nur noch die Stirn vergraben hatte in den Händen, hörte er die Tür gehen. Er sprang auf und war augenblicklich wieder Herr seiner selbst. Zornig blicke er auf den, der die Tür aufgemacht hatte. Kein Mensch, selbst die Gräfin nicht, hatte dazu die Erlaubnis. Wer stand denn da? Sein Söhnchen Wittekopp. Der sah dem Vater aus seinen großen Kinderaugen treuherzig und verwundert ins Gesicht; er wußte nicht recht, was er machen sollte. Da hielt er dem Vater das entzückende Büchlein Klingklanggloria entgegen, das er zu seinem letzten Geburtstage erhalten hatte. Darin stand auch, mit einem künstlerisch reizenden Bildchen: Der Jäger aus Kurpfalz. Aha, Kai lächelte. Fast mit Gewalt riß er sein Söhnchen an sich. Mit ihm zusammen trat er an den offnen Flügel, und Wittekopp dicht an sich herantreten lassend, spielte[294] und sang er den Jäger aus Kurpfalz. Der Sohn schmiegte sich an den Vater, und sein Stimmchen klang hell und klar durchs Zimmer mit. [296]


Der Jäger aus Kurpfalz.

Der letzte Tag

Der letzte Tag

Der letzte Tag

Der letzte Tag

Der letzte Tag

4. Der Jäger sah zwei Leut

Und sagt zu ihnen: »Guten Tag!

Wo wollt Ihr hin, Ihr Leut?«

»Wir wollen nach Kurpfalz!«

Ju ja usw.


5. »Ich will euch auf der Reis

Begleiten, wenn es euch gefällt.

Wißt Ihr wohl wer ich bin?«

»Der Jäger aus Kurpfalz!«

Ju ja usw.


6. »Nun wärn wir in Kurpfalz.

Wer gibt uns aber Mittagsbrot?

Wer schenkt die Gläser voll?«

»Der Jäger aus Kurpfalz!«

Ju ja, usw.


7. Nun weiß ich weiter nichts,

Was noch geschah, denkt selber nach.

Stoßt an, es lebe hoch

Der Jäger aus Kurpfalz!

Ju ja, usw.


Als Wittekopp, dessen größte Freude es stets war, dies Lied mit dem Vater zu singen, hinausgegangen war, setzte sich Kai an seinen Schreibtisch und las noch einmal: Einsam will ich untergehn. Eine unüberwindliche Traurigkeit überkam ihn. Einsam stand er im Leben. Einsam war er durchs ganze Leben gegangen. Nur sein Humor und sein frisches Naturleben hatten ihn herausgerissen aus aller Grübelei und aus aller Sehnsucht nach einem bessern Stern.

Er ging in seinem Zimmer hin und her; es war ihm, als wenn er zuweilen flüsternde Stimmen dicht an seinem Ohr hörte, und gar, es kam ihm vor, als wenn an seinen Kleidern, an seinen Ärmeln gezupft würde.

Um ein Uhr hielt ein Pirschwagen mit vielen Pelzen, Tüchern und Fußsäcken angefüllt, vor der Schloßtür. Die Herzogin hatte gebeten, etwas von der Umgegend sehen zu dürfen; sie hatte einen offnen Wagen gewünscht, um sich besser umschauen zu können. Kai, die Herzogin und die Gräfin fuhren ab. Sie[297] nahmen, auf Kais Antrieb, den Weg nach der Henstedter Haide. Um den Park herum, an der Doppelbuche, auf die er die Herzogin mit Stolz aufmerksam machte, vorbei, durch Wilstedt. Von da so weit in die Haide hinein, daß Kai seinen Damen alles zeigen konnte. Er erklärte ihnen das Wichtigste. Ach, die arme stumme Haide. Heut war sie im Schmuck der Sonne, die sie beglitzerte. Kai wies auf das fernliegende Gewese an der Alsterquelle, das er jedes Jahr, im Winter und im Sommer, ein paar Tage, völlig abgeschlossen, bewohnen wolle. Die junge Herzogin und die Gräfin konnten Kais Wunsch und Willen nicht verstehen. Die Herzogin lachte und zeigte ihre prachtvollen Zähne. Rasch ging es nach Tangbüttel zurück.

Um sechs Uhr führte Kai die Herzogin zu Tisch. Es war wie jeden Tag, nur daß heute der Vorbrüggensche Silberschatz die Tafel schmückte. Wie jeden Tag, selbst wenn Kai ganz allein aß, stand der Haushofmeister in einer Ecke des Saales und lenkte von hier aus nur mit den Augen, ohne ein Wort zu sprechen, die Lakaien.

Die Reihenfolge war: Auf der einen Seite: Kai, die Herzogin, Senator Paridom Plantebeck aus Hamburg (ein alter Freund des Hauses), die Gräfin, der fünfundsiebzigjährige rotwangige Schilting.

Auf der andern Seite saßen: In der Mitte Fräulein Naquet, die »Französin«, aus Bordeaux, links von ihr Wittekopp, sein Hauslehrer: der Kandidat der Theologie Marks Söbenlücht aus Harkshaide. Rechts von Fräulein Naquet: Heilwig, Fräulein Butenschön[298] aus Alt-Rahlstedt, Heilwigs Erzieherin. Diese fünf »Gegenüber« blieben stumm und grad sitzen, nur immer die junge, oft lachende Herzogin heimlich anstarrend. Die beiden Kinder waren so gut erzogen, daß sie sich nicht mucksten. Nur der kleine Wittekopp geriet in große Versuchung: Vor ihm stand ein Porzellankorb mit großen lyonischen Birnen. Eine von diesen unbemerkt zu erobern, war eine Zeit lang sein ganzes Trachten. Er sah der Reihe nach alle an, ob sie ihn nicht grad beobachteten. Glaubte er, daß ihn keiner ansah, dann zuckte das linke Händchen und näherte sich dem Korbe. Aber es gelang ihm nicht. Nur Kai hatte es gesehen.

Die Unterhaltung war am ganzen Tisch französisch, weil die Herzogin kein deutsches Wort kannte.

Einmal machte die Herzogin verstohlen, mit großer Heiterkeit, Kai auf sein Söhnchen aufmerksam, der eine Menge Austern aus seinem Teller aufgehäuft hatte und sie mit sichtlicher Freude und Kennerschaft verzehrte. Kai und die Herzogin lachten, als sie es sahen, und Kai rief dem Witteköppchen zu, er solle nur tüchtig drauf los essen, wenn ihm die Schaltiere schmeckten.

Mitten im fröhlichen Geplauder sprang Kai einmal in die Höhe und hielt die linke Hand vor seine Augen. Nur eine Sekunde. Er setzte sich wieder und unterhielt sich, als wenn nichts geschehen sei, weiter mit seiner anmutigen Nachbarin. Alle hatten es bemerkt. Schon nach wenigen Minuten erhob er sich abermals und hielt eine lange Ansprache, auf[299] deutsch, an seinen Sohn. Es war ein Durcheinander; keiner konnte klar werden, weshalb Kai solche auseinandergehende Dinge: Erziehungsverfahren, Reitunterricht, Leben auf der einsamen Haide, sich selbst, mit seiner Hände Arbeit, sein Brot verdienen und noch allerlei andres ohne Ordnung vermische. Was sollte und wollte diese lange, verwirrte Auseinandersetzung an seinen Sohn? Als er endlich geschlossen hatte, ging er um den Tisch herum zu seinem Söhnchen, gab ihm die Birne, um die das Witteköppchen im Innern so gelitten hatte, hob ihn vom Stuhl und küßte ihm Stirn und Mund.

Darauf kehrte er wieder an seinen Platz zurück und setzte sich, ohne sich bei der Herzogin zu entschuldigen. Augenscheinlich schien er gar nicht zu wissen, daß er eben seinen Sohn angeredet und geküßt habe, denn er sprach und erzählte ganz vernünftig. Plötzlich schnellte er von neuem in die Höhe, öffnete ein wenig seine Lippen und riß die Augen auf. »Hört ihr nichts?« rief er. »Wer ruft beständig meinen Namen, wer raunt und flüstert mir fortwährend zu? Wer ist im Saale? Wer zupft mich jetzt wieder an meinen Kleidern?«

Die ganze Gesellschaft war jählings aufgesprungen. Die Gräfin und Schilting führten den willenlos gewordnen Kai hinaus. Doch ehe er an der Tür war, wandte er sich und schrie wild in den Saal: »Ich komme, ich komme!«

Es war totenstill geworden. Nur hörte man das leise Weinen des kleinen Wittekopps. Kai ging willig[300] weiter, vorüber an den sich tief verneigenden Lakaien. Diese Verbeugung war nicht nur der Ausdruck der Ehrerbietung. Es lag die uns allen eingegebene Scheu vor dem Wahnsinn darin, der ihnen ihren geliebten Herrn in die dunklen, geheimnisvollen Kammern gerissen hatte.

Die Gräfin und Schilting brachten ihn auf sein Arbeitszimmer. Hier wollte seine Frau bei ihm bleiben. Aber er bewog sie und den treuen Schilting, hinauszugehen. Er wisse, daß er erregt sei; einige Stunden Ruhe würden ihm gut tun: er habe zuviel in den letzten Tagen gearbeitet.

Die Gräfin befahl unten, auch auf Drängen Schiltings, daß die gesamte Dienerschaft die ganze Nacht aufzubleiben habe. Kai setzte sich an seinen Schreibtisch und suchte weiter in Brentano. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn er hatte längst die drei Gedichte, die er von ihm haben wollte, ausgewählt. Jetzt schrieb er sich das dritte ab für seine Sammlung:


Der Feind.


Darüber setzte er noch zwei andere Zeilen von Clemens Brentano:


Süßer Tod, süßer Tod

Zwischen dem Abend- und Morgenrot.


Der Feind.


Einen kenn ich,

Wir lieben ihn nicht.

Einen nenn ich,

Der die Schwerter zerbricht.[301]

Weh! Sein Haupt steht in der Mitternacht,

Sein Fuß im Staub,

Vor ihm weht das Laub

Zur dunkeln Erde nieder.

Ohn Erbarmen

In den Armen

Trägt er die kindlich taumelnde Welt.

Tod so heißt er,

Und die Geister

Beben vor ihm, dem schrecklichen Held.


Kai legte die Feder weg und lehnte sich zurück. Er fiel sofort in Schlaf und hatte einen lebhaften Traum: Um sich sah er ohne Grausen Geschöpfe, die nicht von unserer Erde waren. Sie winkten ihm, umschwebten ihn, näherten sich ihm, sie zogen ihn empor – da erwachte er. Er trat ans Fenster und sah den Sternhimmel, und unter all den Sternen leuchtete der Aldebaran in sein Herz. Kai bewegte sich zögernd, wie in Träumen, an die Tür und klinkte sie leise auf. Mit derselben zögernden Bewegung schritt er die Treppe hinab.

Unten schloß er, wie ers schon früher getan hatte, mit seinem fein gearbeiteten Schlüssel auf und ging mit geöffneten Armen über den ausgedehnten Rasen. Aber er kniete dort nicht an der Stelle nieder, wie er es sonst zu tun pflegte, sondern ging weiter ins Parkgehölz hinein, aus dem ein Pförtchen auf die Straße nach Wilstedt und nach der Henstedter Haide führt. Dies war wie ein Zeichen für die Gräfin, für Schilting und für die Dienerschaft, die ihn versteckt beobachtet hatten, ihm zu folgen. Sie fanden ihn nicht,[302] und keiner fand ihn am nächsten Tag, trotz der leichten Schneedecke, worauf Fährte und Fußspur doch zu erkennen sind, trotz seiner Hunde, die schon im Garten alle Witterung verloren hatten. Auch verwischten bald fallende Flocken alles. Nur der alte Schneider Hans Mölck, der in der gleichen Nacht aus dem Henstedter Moor nach Wilstedt gegangen war, meldete sich: Er habe auf der Haide in einiger Entfernung von sich einen Menschen gesehn, der barhaupt, den Kopf zurückgebogen, mit ausgespannten Armen langsam querfeldein gegangen sei. Aber Hans Mölck galt als Gespensterseher und Spökenkieker.

Und keiner fand ihn in den nächsten Wochen und Monaten. Er ist verschwunden geblieben.

Quelle:
Detlev von Liliencron: Leben und Lüge, in: Sämtliche Werke, Band 15, Berlin [o. J.], S. 284-303.
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