Tag und Nacht

[200] nach der nordischen Sage


Wenn Abends vom glutroten Himmel

Der Sonne Roß heruntersteigt,

Der Sohn des Lichts, der tageshelle Schimmel,

Und seinen Hals, den schön gebognen, neigt;

Dann aus den Nebeln mit bereifter Mähne

Steigt auf das Pferd der Nacht,[200]

Und gähnend weist es seine weißen Zähne

Den Umgekommenen der Schlacht.


Es schlängelt sich gleich blauem Stahle

Durch breite Ström' und Eisgefild

Und fließt dahin im Mondenstrahle,

Wie Blut von eines Helden Schild.

Der Sturmwind hängt an seinen Hufen,

Die Schiffe jagt's im wilden Meer,

Es saust vorüber, wo die Wächter rufen,

An Turm und Lager um ein schlafend Heer.


Indessen grast auf einer bunten Wiese

Das Sonnenroß, geführt am Zaum

Von einem Zwergen, und es sitzt ein Riese

Im Sattel, ein Gigant, der schwere Traum.

Es ruhet aus im Waldesdunkel

An blühender Violen Saum,

Wo kaum durchblinkt der Sterne müd Gefunkel

Der Esche schwarzen Zauberbaum.


Auf einmal ist's, als fühl' es wieder

Den alten Mut, die Erde bot

Ihm neue Kraft, es schüttelt Mähn' und Glieder

Und stampft, daß Feuer aus der Erde loht.

Und schnaubend stürzt es sich ins Flutgewühle,

Der Riese fällt, der Zwerg ist tot;

Es wiehert und erweckt die Morgenkühle –

Am Himmel glüht das Morgenrot.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 200-201.
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