Völkerfrühling

[214] Erloschen sind Gestirne, Nationen,

Ihr Nachglanz leuchtet in die fernste Nacht.

Zur Freiheit sind nach jahrelangen Fronen

Schon halbversunkne Völker neu erwacht.

Sie blicken nach der Väter Lorbeerkronen,

Erheben sich, und in verjüngter Macht

Versuchen sie auf Schiffen, Roß und Wagen

Ans Kampfziel einer neuen Zeit zu jagen.
[214]

Nicht lang mehr werden Mut und Tatlust rosten;

Siegreich in neuen Morgenröten stieg

Der Taten Sonne wieder auf im Osten,

Nachdem sie zürnend manch Jahrhundert schwieg.

Der Süden flammt, die Abendlande glosten,

Und alles deutet für die Völker Sieg.

Von allen Höh'n, der Knechtschaft überdrüssig,

Macht junges Licht das Eis der Vorzeit flüssig.


Von Frühlingsnebeln geht der Mond umflossen

Still im Zenith durchs tiefe Nachtazur.

Es sucht und fühlt in Knospen halb erschlossen

Ihr auferwachend Leben die Natur.

In allen Lüften mai't es; Keime sprossen,

Und nicht im Schoß der stummen Erde nur:

Lebendig wird in Wonnen und in Schmerzen

Ein neues Dasein auch in Menschenherzen.


Sei mir gegrüßt, du milder Frühlingshauch,

Sei mir gegrüßt, du Strauch von jungen Rosen!

Ihr seid's allein, die ich zum Dichten brauch',

Wenn abendlich im Vorhang Lüfte kosen,

Am Pult mir Blumen blühn, Frühwolken auch

Verkünden, daß nun bald die Donner tosen,

Daß bald vom Blitz der ersten Juniglut

Gekrönt der Berg ist und vom Schaum die Flut.


Wie süß ist's, Ruder in den See zu schlagen,

Wenn noch die Wellen deckt ein Nebelflor;

Wie süß, in Frühlingsnächten hinzujagen

Auf schnellem Roß durch Heide, Wald und Moor,

Durch Gegenden, die finstre Züge tragen,

Wo Birke nur gedeiht und niedres Rohr,

Auf Bergen auch zu horchen, über Schluchten

Des Waldbachs Sturz, der Woge schnellen Fluchten.
[215]

Warum nicht unsre Phantasie betrügen?

Ist doch so vieles, was uns ernster macht,

Nur ein Erscheinen minder holder Lügen?

Durchschwärmt nicht unsers Erdballs schöne Nacht

Die Menschheit stets in neuen Maskenzügen?

Und wo sie jubelt, wehklagt oder lacht,

Sie folgt der Täuschung, wie das Schiff dem Glanze

Der Mondlichtstreifen auf dem Wellentanze.


Verlassen lag ich einst in Finsternissen,

Voll Zweifelsqual, verzehrt vom innern Brand.

Von dir ward ich dem schweren Traum entrissen,

Von dir, Geschichte! Deine Geisterhand

Ließ bald mich ein gequältes Selbst vermissen,

Du gabst die Erde mir als Vaterland.

Gelingt mir je ein Lied zu meinem Ruhme,

Dir folg' es, wie dem Licht die Sonnenblume.


Zwar neigt der Tag schon bald sich meinem Haupte,

Und näher rückt des Lebens Mittagszeit,

Und die mit Rosen noch den Tag umlaubte,

Die Jugend sinkt hinab in Dunkelheit.

Zu früh erbleicht, was man zu dauernd glaubte,

Zu spät wird man von manchem Wahn befreit;

Nur ein Trost bleibt, der Trost, im großen Ganzen

Sich geistig, sich unsterblich fortzupflanzen.


Zersplittert wird die Kraft, der Mut gebrochen,

Die Glut wird Asche, wie die Hoffnung Schaum,

Doch wird das Herz im Herz der Menschheit pochen,

Wenn längst zerfloß das Dasein wie im Traum;

Die Blüte wird zur Frucht nach wenig Wochen,

Nach Jahren aus der Frucht ein neuer Baum;

Wenn alles auch ein letzter Tag bewältigt:

Im All lebt alles fort vertausendfältigt. –
[216]

Stürmt an, dringt vor, ihr tapfern Siegesboten

Des Weltgerichts! Auf, blonder Alarich!

Vandalen, Markomannen, Sueven, Goten,

Auf, Attila! Auf, düstrer Geiserich!

Werft diese Stadt hinunter zu den Toten,

Ihr Maß ist voll, ihr graus' Gestirn erblich.

Dringt an, stürmt vor, und euren blut'gen Wegen

Folg' Heil und einer neuen Ära Segen!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 214-217.
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