Bergode

[58] Stille Nacht herrscht feierlich ernst ringsum noch,

Nur der Waldbach braust im Geklüft hin schäumend,

Nur der Frühwind weht und verheißt des Morgens

Grauende Dämmrung.


Tief im Grund ruhn schattige Täler, dunkler

Ragt der Tannwald, über den Wipfeln funkelt

Noch ein Stern. Du bist es, der Stern der Liebe,

Strahlende Venus!


Stern des Morgens! wie von den Höh'n dein Lichtglanz

Durch die Dämmrung blinkt und im Frührot zittert,

Zart und hell, wie perlender Tau vom Kelchgrund

Blühender Rosen.


O wohl magst du lieblich erglänzen, taureich!

Von zu früh Verblichener stillem Grabkreuz

Küßt dein Lächeln weg an den Kränzen laut're

Tränen der Wehmut.


Und im Himmel bist du der Saiten eine,

Die, von Engelsharfen erklungen, jubelnd

Durch das Weltall tönen im ewig neuen

Liede der Schöpfung. –


Auf jetzt! Glührot leuchtet der Gletscher Haupt schon,

Sonne! Dein Titanengeschlecht begrüßt dich,

Deiner Urzeit Kinder. Zu euch jetzt, taghell

Flammende Gipfel!


Über Gras und Blümchen, im Taulicht zitternd,

Klimmt des Wandrers Schritt, und im Moos darunter[58]

Schlüpfen hastig Spinnen und emsig summen

Bienen im Goldklee.


Rückwärts sinkt in Nebel zurück die Talschlucht,

Vor dem sehnsuchttrunkenen Blick erschließt sich

Bis zum Seegelände hinab die ganze

Liebliche Fernsicht.

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 58-59.
Lizenz:
Kategorien: