Walpurgisnacht

[160] Walpurgisnacht vorbei!

Es stürmt und wetterleuchtet,

Den Einzug hält der Mai,

Von Dämmergrau'n umfeuchtet.


An Felsen Flutgeroll,

Verglimmend Sterngefunkel,

Im Wald schlägt sehnsuchtsvoll

Die Drossel tief im Dunkel.


Die Windfahn' krächzt am Dach,

Der Uhu im Geklüfte;

Was wispert wie ein Ach

Verhallend in die Lüfte?


Ein Hexchen ist's, die just

Vom Blocksberg heimgefahren,

Beschneit die volle Brust

Und Blüten in den Haaren.


Am grünen Fensterbrett

Da duften die Violen;

Sie wirft sich auf ihr Bett

Mit schwerem Atemholen.


Die Händchen ruhn im Schoß,

Ein Schleier hängt zerrissen

Um ihr Gesichtchen los,

Sie drückt es in die Kissen.


Am Tisch brennt, tief im Docht,

Von gestern noch die Kerze,

Ihr Herzchen pocht, es pocht

In wildem Liebesschmerze.


Verschlafen kräht der Hahn,

Ein Blitz noch, und ein trüber,[161]

Umwölbter Tag bricht an –

Walpurgisnacht vorüber!

Quelle:
Hermann von Lingg: Ausgewählte Gedichte, Stuttgart u. Berlin 1905, S. 160-162.
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