XIII. Tyro.

[337] Enipeus und Neptun.


ENIPEUS. Das ist nicht schön von dir, Neptun, wenn ich die Wahrheit sagen darf, meine Gestalt anzunehmen, um meine Geliebte zu überschleichen und zu Falle zu bringen! Das arme Kind glaubte, ich sei es, sonst würde sie's gewiß nicht zugegeben haben.

NEPTUN. Du hast es nicht besser verdient, da du so stolz und kaltsinnig bist, ein Mädchen, die tagtäglich zu dir herabkommt und vor Liebe zu dir fast verschmachtet, über die Achsel anzusehen und dir auf alles, was sie deinetwegen leidet, noch viel zugute zu tun. Das arme Ding irrte so traurig an deinem Ufer umher, stieg so manches Mal hinab und wusch sich in deinem Wasser und sehnte sich so herzlich nach deinem Genusse; und du machtest den Spröden gegen sie![337]

ENIPEUS. Und gab dir das ein Recht, dich hinter meine Gestalt zu verstecken, mir meine Liebhaberin wegzufischen und die unschuldige, nichts Böses ahnende Tyro zu hintergehen?

NEPTUN. Deine Eifersucht kommt nun zu spät, mein guter Enipeus; du hättest vorher nicht so stolz und ekel tun sollen. Übrigens ist der Tyro kein Leid geschehen, da sie den, der ihren Gürtel lösete, für ihren Geliebten hielt.

ENIPEUS. Als ob du ihr, wie du davongingst, nicht selbst gesagt hättest, wer du seiest! Das war es eben, was ihr am wehesten tat. Aber auch mir hast du Unrecht getan, da du die Freuden, die mir zugedacht waren, verstohlnerweise dir zueignetest und, »hinter der purpurnen Woge, die euch beide verbarg«, dich statt meiner an meinem Mädchen ergötztest.

NEPTUN. Du konntest es ebensogut haben, Enipeus, aber du wolltest ja nicht.

Quelle:
Lukian: Werke in drei Bänden. Berlin, Weimar 21981, Band 1, S. 337-338.
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