XV. Die Entführung der Europa.

[340] Zephyrus und Notus.


ZEPHYR. Nein, keinen prächtigern Aufzug hab ich auf dem Meere nie gesehen, seitdem ich wehe! Sahst du's nicht auch, Südwind?

NOTUS. Von was für einem Aufzuge sprichst du, Zephyr? wer waren denn die Aufziehenden?

ZEPHYR. Du hast also ein Schauspiel versäumt, wie du kein anderes jemals zu sehen bekommen wirst.[340]

NOTUS. Ich hatte am Roten Meere zu tun und dann noch die ganze südliche Küste von Indien zu durchwehen; ich weiß also nicht, wovon du sprichst.

ZEPHYR. Du kennest doch den Agenor Zu Sidon?

NOTUS. Den Vater der Europa? Allerdings; wozu diese Frage?

ZEPHYR. Was ich dir zu erzählen habe, betrifft diese nämliche Europa.

NOTUS. Etwa, daß Jupiter in das Mädchen verliebt ist? Das weiß ich schon lange.

ZEPHYR. Daß er ihr Liebhaber ist, weißt du: aber höre nun, was die Folgen davon waren. Europa war mit einer Anzahl junger Mädchen ihres Alters ans Ufer herabgekommen, um sich da mit jugendlichen Spielen zu erlustigen. Unversehens fand sich Jupiter in Gestalt eines wunderschönen Stiers dabei ein und spielte mit; er war ganz weiß, hatte zierlich gewundene Hörner und ein überaus sanftes lachendes Auge, sprang wie ausgelassen vor Fröhlichkeit auf dem Ufer herum und brüllte so lieblich, daß es eine Lust zu hören war. Das alles machte die junge Europa so dreist, daß sie sich dem schönen Stier auf den Rücken setzte. Aber kaum merkte Jupiter, daß sie fest saß, so lief er in vollem Sprung dem Meere zu und schwamm mit ihr davon. Das gute Mädchen, mächtig über diese Begebenheit erschrocken, klammerte sich mit der linken Hand an einem seiner Hörner an, um nicht herabzufallen, und mit der andern zog sie ihren Schleier an sich, der in die Luft hinausflatterte.

NOTUS. Jupitern in Gestalt eines Ochsen mit seinem Liebchen auf dem Rücken daherschwimmen zu sehen – da ist dir in der Tat ein sehr artiges und reizendes Schauspiel zuteil worden, Zephyr!

ZEPHYR. Oh, was nun folgte, war noch viel angenehmer! In einem Augenblick zog das Meer wie einen Teppich über seine Wellen her und wurde so glatt wie ein Spiegel; wir andern hielten alle den Atem an uns und folgten bloß als Zuschauer in einiger Entfernung nach. Vor ihnen her flogen eine Menge Liebesgötter, so nah über dem Meere,[341] daß ihre Fußspitzen zuweilen am Wasser hinstreiften, mit brennenden Fackeln in der Hand und das Brautlied singend; die Nereiden tauchten aus dem Wasser auf und ritten, meist halbnackend, auf Delphinen zu beiden Seiten nebenher und klatschten vor Freude in die Hände. Auch die Tritonen und alle andere Meerbewohner, deren Anblick nichts Grausenhaftes hat, tanzten in Reigen um das Mädchen herum; ja Neptun selbst hatte seinen Wagen bestiegen und fuhr, mit Amphitriten an seiner Seite, fröhlich vor ihnen her, um seinem schwimmenden Bruder gleichsam den Weg zu bahnen. Und damit nichts fehle, trugen noch ein paar nervichte Tritonen die Liebesgöttin, auf einer großen Muschel liegend, die alle Arten von Blumen auf die Braut herabstreute. Dies dauerte in einem fort, vom phönizischen Gestade bis nach Kreta. Aber kaum hatte er einen Fuß auf diese Insel gesetzt, weg war der Stier, und Jupiter in eigener Gestalt führte Europen, die von süßer Schamröte glühte und sich nicht die Augen aufzuschlagen getraute, der diktäischen Höhle zu; denn sie merkte nun freilich, warum es zu tun war. Wir aber stürzten uns, der eine da, der andere dort hinaus über das Meer hin und setzten es wieder in sein gewöhnliches Wallen und Wogen.

NOTUS. Was du glücklich bist, Zephyr, das alles gesehen zu haben! Ich mußte meine Augen indessen an Greifen, Elefanten und schwarzen Menschen weiden.[342]

Quelle:
Lukian: Werke in drei Bänden. Berlin, Weimar 21981, Band 1, S. 340-343.
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