128. Die weiße Jungfrau auf der Boyneburg.

[80] Andere Sage.


Einmal hütete auch ein Schäfer an der Boyneburg und fand eine schöne, seltene Blume; er steckte sie auf seinen Hut und alsbald erschien ihm eine weiße Jungfrau, die ihm winkte mitzugehen. Der Schäfer gehorchte; da that sich der Berg vor ihnen auf und[80] die Jungfrau führte den Staunenden in Gemächer voll kostbarer Schätze und sagte freundlich: »So viel Du davon tragen kannst ist Dein!« Das ließ sich der Schäfer nicht zweimal sagen; er that seinen Hut ab, stellte ihn auf die Seite und fing an zusammen zu raffen, und wie er alle Taschen voll hatte, machte er sich auf den Rückweg. »Vergiß das Beste nicht!« rief ihm die Jungfrau nach; aber er dachte eben an nichts Besseres, als an seinen unverhofften Reichthum, und als er wieder ins Freie trat, schlug die Pforte prasselnd hinter ihm zu. Alles war im Nu verschwunden und der thörichte Schäfer wieder so arm als zuvor, denn er hatte seinen Hut im Berge stehen lassen und die Wunderblume damit.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXXX80-LXXXI81.
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