130. Die weiße Jungfrau im Heiligenberge.

[82] Unglaublich groß sind die Schätze, die tief im Innern des Heiligenberges verborgen liegen. Wer sie besäße würde der reichste Mann der Erde sein. Aber es hat noch kein Sterblicher die Schlüssel zu diesen Schätzen gefunden, und der Einzige, dem sie geboten wurden, war thöricht genug, sie nicht zu nehmen. Dieser Einzige war ein Schäfer aus Gensungen, der einst an einem schönen Sommertage seine Heerde den Berg hinauftrieb, als ihm plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, eine Jungfrau in einem langen weißen Gewand erschien und ihm Zeichen gab, daß er ihr folgen solle. Bange schritt er hinter der seltsamen Erscheinung her; es öffnete sich vor ihnen eine Thür und sie traten in einen langen Gang. Dem Schäfer wurde ganz unheimlich zu Muth. Da drehte sich die Jungfrau nach ihm um, deutete schweigend auf einen Strauß Schlüsselblumen und suchte ihm durch Zeichen verständlich zu machen, daß er den Blumenstrauß an sich nehmen möge. Aber der Furchtsame hatte sich schon halb zur Flucht gewendet, mit wenigen langen Sätzen war er zur Thür hinaus, die alsbald mit lautem Gepolter hinter ihm zufiel. In demselben Augenblick hörte der Schäfer drinnen einen entsetzlichen Schrei, der ihm Mark und Bein durchdrang; dann war es wieder so still und einsam am Berge wie vordem, und der Schäfer sah weder die Jungfrau noch die Thür, durch die sie gegangen, jemals wieder. Der Blumenstrauß war der Schlüssel zu den Schätzen; hätte er[82] ihn genommen, so wären all die goldgefüllten Kammern des Berges vor ihm aufgegangen, ihr Reichthum wäre sein und die Jungfrau erlöst gewesen.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXXXII82-LXXXIII83.
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