137. Die Schlüsselfrau zu Felsberg.

[86] Das Schloß Felsberg ist im dreißigjährigen Kriege zerstört worden. Lange zuvor wohnte daselbst eine Gräfin, welche im Besitze großer Schätze war, und Beide, die Gräfin wie die Schätze, kann der, welcher die Gelegenheit beherzt ergreift, noch heute in einem unterirdischen Gemache des jetzt verfallenen Schlosses sehen. Von der Schlüsselfrau, wie die Felsberger sie nennen, erzählt man sich viel abenteuerliche Dinge. In der Neujahrsnacht zeigt sie sich am Schloßberge und winkt den Vorübergehenden, denn nicht eher wird sie erlös't, als bis der Schatz gehoben ist, welchen sie hütet. Manchem war dies Glück schon geboten, doch fehlte es immer zur rechten Zeit dem Einen an Muth, dem Andern an Verstand und Witz. Ein Mann aus der Stadt erblickte sie einst und bemerkte, daß sie ihm winkte. Er raffte all seinen Muth zusammen und folgte ihr in den Thurm des Schlosses, wo sie eine Treppe hinabstieg. Unten angekommen sah er Haufen Goldes aufgeschichtet. Auf dem Tische lag eine weiße Rose. Die Schlüsselfrau sagte, er möge nehmen, was ihm das Beste scheine. Da griff der Mann[86] nach dem Golde statt nach der Rose und plötzlich war Alles vor seinen Blicken verschwunden und er sah sich in dunkler Nacht am Abhange des Schloßberges liegen. Der ausgestandene Schreck führte seinen baldigen Tod herbei; doch wendete er zuvor sein Vermögen an, um Ländereien im Felde von Gensungen zu kaufen und diese der Kirche zu schenken, mit der Bedingung, daß dafür Messen zum Seelenheil der ruhelosen Schlüsselfrau gelesen würden.

Mündlich.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. LXXXVI86-LXXXVII87.
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