161. Fährmanns Lohn.

[105] Von der Hörnekuppe bei Allendorf fällt ein schäumendes Bächlein, über welches die s.g. Zauberbrücke führt, jäh in die Werra hinab. Hier hatte einst ein armer Fischer seine Netze ausgeworfen, als in später Abendstunde der Ruf: »Hol' über!« vom andern Ufer her ihn überraschte. Wer mag das sein, dachte er, hier ist nicht der Ort zum Ueberfahren, und er achtete nicht darauf. »Hol' über! hol' über!« erscholl es dringender als zuvor. Der Fischer sah ein unbekanntes Männlein am Ufer stehen. »Ich kann euch nicht dienen,« rief er zurück; »ein Kind, das mein Weib mir geboren,[105] soll noch heute getauft werden, und weil ich kein Geld habe dem Pfarrer die Taufgebühren zu zahlen, so will ich ihm wenigstens ein Gericht Fische fangen. Zum Ueberfahren habe ich keine Zeit mehr, da die Nacht bald ganz hereinbrechen wird.« – »Aber ich muß durchaus auf das andere Ufer,« entgegnete der Unbekannte, »und wenn du mich überfährst, will ich dir's reichlich vergelten.« Der Fischer bequemte sich endlich, holte ihn in seinem Kahne ab und fuhr ihn zum jenseitigen Ufer. Dort angelangt sagte das Männlein: »Nun, da du mir geholfen, will ich auch dir helfen.« Es führte den Fischer an den Fuß der s.g. Burgstätte, und zeigte ihm im Steingeklüfte Massen hellglänzender Goldstücke. »Nimm,« sagte es, »soviel du willst!« Der arme Mann raffte in seine Fischerschürze soviel diese zu fassen vermochte, eilte – das unbekannte Männlein war unterdessen verschwunden – zu seinem Kahne und damit nach Hause, wo er voll Freude die goldne Last vor seiner Frau ausschüttete. Diese erschrack aber so sehr darüber, daß sie unter dem Ausrufe: »Das Geld kannst du unmöglich auf rechtem Wege erworben haben!« auf der Stelle starb. Der Fischer erkannte nun wohl, daß in den Goldstücken kein Segen für ihn sei und brachte solche am folgenden Tage der städtischen Obrigkeit zu Allendorf mit der Bitte dieselben zur Gründung einer frommen Stiftung zu verwenden. Dies geschah dann auch und zwar in der Weise, daß die Zinsen des Kapitals zu einer jährlichen Spende von Speck und Brod an Arme bestimmt wurden, die noch bis auf den heutigen Tag besteht.

Zeitschr. d. hess. Gesch. etc. B. VI., 100.

Quelle:
Karl Lyncker: Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Kassel 1854, S. CV105-CVI106.
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