Zweites Capitel.

Am Mineralbrunnen.

[517] Der eisige Novembersturm streift die letzten braunen Blätter von den Bäumen und wirbelt sie mit vereinzelten kleinen Schneeflocken durcheinander. Bleifarbig hängt der Himmel über der öden Landschaft, als ob er sich in jedem Augenblick auf die Erde niedersenken wolle, um das letzte im Freien zurückgebliebene Leben gewaltsam zu erstarren.

Ohne Furcht oder Bedauern über meinen Entschluß sehe ich dem Winter entgegen, den langen einsamen Nächten und den kurzen Tagen. Ohne Furcht oder Bedauern stehe ich im Begriff, mich aus Monate in diese Wildniß zu vergraben, in eine Wildniß, in welcher keine menschliche Stimme an mein Ohr dringt, der Ton meiner eigenen Stimme von Niemand gehört, unheimlich in den endlosen Räumen verhallt.

Doch nein, ich darf nicht ungerecht sein; denn während ich die Geschichte meines wechselvollen Lebens niederschreibe, werde ich mit schüchterner Anhänglichkeit beobachtet, und wenn ich von meiner Arbeit zufällig emporschaue, blicke ich in die dunklen melancholischen Augen eines indianischen Kindes, meines Schützlings, wahrscheinlich einer der Letzten des einst so mächtigen und glücklichen Mandanenstammes.

Das arme Mädchen, welches mit dankbarem Herzen zu mir, wie zu einer Gottheit emporblickt, mildert das traurige Gefühl der gänzlichen Vereinsamung, welches mich bei dem Gedanken an den langen, unerbittlich strengen Winter beschleicht. Ich kann mir wenigstens sagen: »ich bin nicht allein;« und ist es mir auch nicht vergönnt, mit dem armen, von der ganzen Welt verlassenen Wesen eine meiner Vergangenheit entsprechende Unterhaltung anzuknüpfen, se vermag ich es doch zu belehren, zur Aufnahme in eine Mission vorzubereiten und damit einen guten Zweck zu erfüllen.

Doch das Kind allein ist es nicht, was mich so ruhig das allmälige Erstarren der Natur beobachten läßt, sondern auch das Bewußtsein, fortan mein Leben nicht ohne jede geistige Beschäftigung vertrauern zu müssen.[517]

Das verflossene Jahr war für mich ein glückliches, wenigstens in so weit, als ich mehr, wie hinreichend erübrigte, um abgesondert von andern Menschen und unbelästigt von den Anforderunzen selbstsüchtiger Handelsgesellschaften den Winter verbringen zu können. Auch besser ausgerüstet habe ich mich, denn was mir in früheren Jahren mangelte, das besitze ich jetzt in Fülle, nämlich die Mittel, mein wechselvolles Leben zu beschreiben, und dabei meine ganze Vergangenheit gewissermaßen noch einmal zu durchleben.

O, was hätte ich nicht in dem verflossenen Winter für einen kleinen Vorrath Papier hingegeben! Aber es ist vielleicht besser so; ich hatte Muße, die ernstesten Betrachtungen über die verschiedenen Begebenheiten und Erlebnisse anzustellen, die Charaktere, welche, hier zum Guten, dort zum Bösen, einen entscheidenden Einfluß auf mich und meine Zukunft ausübten, bis in die kleinsten Einzelheiten zu zerlegen und mir einen klaren Einblick in Manches zu verschaffen, was mir einst unerklärlich erschien.

Ich beginne daher meine Arbeit nicht unvorbereitet; ich werde erzählen können, als hätte ich mich an allen Orten zu gleicher Zeit befunden, und einen, wenn auch trüben Genuß soll es mir gewähren, mich dadurch im Geiste um so lebhafter in jene Zeiten zurück zu versetzen.

Ich schreibe, aber »für wen?« frage ich mich. Werden jemals die Blicke eines andern Sterblichen auf diesen Schriftzügen haften? Vielleicht nach vielen langen Jahren; denn da ich beim Beginn des Frühlings wieder fort muß in andere Gegenden, meine Arbeit aber auf meinen mühevollen Wanderungen nicht mit mir herumtragen kann, so gedenke ich sie hin zu verbergen. – Werde ich selbst noch einmal hierher zurückkehren, oder ist dies der letzte Winter, welchen ich hier verlebe? Doch wozu in die Zukunft denken, so lange die Vergangenheit mir so reichen Stoff zu Betrachtungen bietet? Die Sorge um die Zukunft soll mich nicht stören, nicht verhindern, mein Vorhaben auszuführen. –

Welch seltsamer Kontrast zwischen dem Früher und dem Jetzt; zwischen dem Knaben, der einst in jugendlicher Vermessenheit wähnte, den Himmel erstürmen zu können, und dem ernsten Mann, der als einsamer Pelzjäger die wilde, freie Natur durchstreift, um sein kärgliches Brod zu erwerben!

Eine selbstgeschaffene Erdhöhle bildet meinen Palast, ein von Bibern und Ottern reich belebtes Nebenflüßchen das Feld meiner Thätigkeit, und in geringer Entfernung, meinen Augen erreichbar, wälzt der Missouri seine gelben Fluthen auf tausendjähriger Bahn dem Golf von Mexiko zu.

Wie der Himmel so schwer, so bleifarbig niederhängt; wie der Sturm mit dürren Blättern und Schneeflocken spielt und heulend zwischen den Hügeln hindurch auf den majestätischen Strom niederfahrt! Wie die Raben und Krähen unheimlich krächzen und ihre starken Schwingen im Kampfe gegen den heftigen Wind prüfen! Wie lange wird es noch dauern, und der Missouri träumt unter einer starren, zusammenhängenden Eislast, während tiefer Schnee Wald und Flur ungangbar macht und mir jede Verbindung mit andern, fern ab lebenden Menschen vollständig abschneidet?[518]

Mit Ruhe sehe ich dieser Abgeschiedenheit entgegen; sie schreckt mich nicht. Ich fühle mich so glücklich, wie dies nach meinen Lebenserfahrungen nur immer möglich ist, oder ich würde die Einsamkeit nicht aufgesucht haben.

Das verkohlende Holz knistert auf dem glühenden Aschenhaufen und verbreitet eine angenehme Wärme in meiner wenig umfangreichen Hütte; die junge Mandanenwaise arbeitet mit einer für ihre Jahre ungewöhnlichen Fertigkeit an weichen Mokasins, und zu ihren Füßen spielt ein gezähmter Waschbär gar anmuthig mit einer Büchsenkugel. Ich selbst aber sitze vor einem Felsblock und mit leisem, schnarrendem Geräusch fliegt die Feder über das Papier.

Wie merkwürdig die Buchstaben sich zu Worten, die Worte sich zu Gedanken und Sätzen aneinander reihen! Lange, lange ist es her, seit ich zum letzten Male schrieb, so lange in der That, daß ich schon befürchtete, das Schreiben verlernt zu haben.

Doch wie ich sehe, daß es mir noch gelingt, meine Gedanken festzubannen, stürmen auch die Bilder der Vergangenheit mit fast erdrückender Wucht auf mich ein, so daß ich sie kaum von einander zu scheiden und zu ordnen vermag.

Mögen die Bilder aber eine Färbung tragen, welche sie wollen, bei allen tritt in den Vordergrund der erste Genosse meiner Jugend, der liebe, rebenbekränzte, alte Vater Rhein, der Rhein mit seinen anmuthigen Thälern und alterthümlichen Städten, mit seiner malerischen Felseinfassung und den grauen Ritterburgen, der Rhein endlich mit seinen schönen Sagen und den edlen Weinen, und vor Allem mit der heiteren, warmherzigen Bevölkerung, welche den majestätischen Strom mit Stolz ihren Vater nennt.

Ja, am Rhein bin ich geboren, und zwar an einem Punkte, der sich, hinsichtlich seiner romantischen Schönheit, kühn mit allen hervorragenden Stellen seiner Ufer in einen Vergleich einlassen darf. Weß Kind ich sei und wo meine Wiege einst stand, wenn ich überhaupt je in meinem Leben gewiegt wurde, dürfte kaum in meiner Erzählung von Wichtigkeit sein. Ebenso bieten meine glücklichen Kinderjahre nichts, was sie vor der Jugendzeit anderer Kinder besonders auszeichnete.

Ich war einziger Sohn meiner Eltern, liebte, wie andere Knaben meines Alters, die Freistunden mehr, als den Unterricht, hielt, ebenfalls wie andere Knaben, die Aepfel in den Gärten der Nachbarn für schmackhafter, als die im eigenen Garten, und neigte, nicht minder wie andere Knaben, zu der Ueberzeugung hin, daß es dringend geboten sei, den vom Markt heimkehrenden Bauerfrauen angezündete Schwärmer in die auf ihren Köpfen schwankenden Körbe zu werfen und demnächst davon zu laufen, – in den Dämmerungsstunden an den Klingeln der Herren Präceptores zu reißen, oder auch das Taschengeld für schlechte Cigarren hinzugeben und mich in eine höchst unbehagliche Stimmung hineinzurauchen.

Ich war also, wie die meisten Knaben, keiner von den besten, keiner von den schlechtesten. Es prägte sich dies bereits auf der Schule sehr scharf aus, indem ich keineswegs für die letzten Bänke schwärmte, aber auch kameradschaftlichen Sinn genug besaß, nicht durch angestrengtes Hinarbeiten auf den Primusplatz[519] mir ein gewisses Uebergewicht über meine Mitschüler anmaßen zu wollen. Die Bezeichnung »ziemlich gut« erschien mir als vollkommen genügend, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß ich das Abiturienten-Examen ziemlich gut bestand und ziemlich gut vorbereitet zur Universität abging.

Leider hatte ich meine Eltern frühzeitig verloren. Sie waren, als ich noch die untern Klassen des Gymnasiums besuchte, in dem kurzen Zeitraum von zwei Jahren gestorben, mir gerade so viel hinterlassend, wie nothdürftig ausreichte, um mit ruhigem Gewissen mich für das kostbare und vorläufig sehr wenig versprechende Studium der Rechtsgelahrtheit entscheiden zu dürfen.

In meinen äußeren Verhältnissen bewirkte der Tod meines Vaters die in solchen Fällen fast gewöhnliche Veränderung: Ich erhielt einen Vormund, wurde in Pension gegeben, und zum Ueberfluß entdeckten alle Menschen, namentlich aber die Gattin meines Herrn Pensionsvorstehers, plötzlich in mir so viele Anlagen zum Bösen – was in solchen Fällen ebenfalls nicht ganz selten – und prophezeite man mir so oft die ehrenwerthe Carriere eines Rinaldo Rinaldini, daß ich selbst an mir hätte verzweifeln müssen, wenn ich nicht schon frühzeitig mir geschmeichelt hätte, mich und meine Neigungen selbst am besten und ohne alle fremde Einmischung beurtheilen zu können.

Daß mein Urtheil wenigstens nicht weit von der späteren Wirklichkeit abwich, unterliegt jetzt keinem Zweifel mehr; dagegen läßt sich nicht leugnen, daß diejenigen, die einst in mir einen vielversprechenden Wegelagerer, Kirchenschänder und blutgierigen Demagogen erblickten, recht oft Veranlassung gefunden und genommen haben, kopfschüttelnd den weisen Ausspruch zu thun: »Ich habe es vorhergesehen und gesagt, daß aus dem Jungen nie etwas werden würde.«

Eine rühmliche Ausnahme von Denjenigen, die mich nie ansehen Konnten, ohne einen vorwurfsvollen Blick gen Himmel zu senden und mit einem erschütternden, frommen Stoßseufzer mich vollständig aufzugeben, bildete mein Vormund.

Derselbe, ein alter Kriegskamerad meines Vaters und von diesem schon bei Lebzeiten zu meinem Vormunde bestimmt, fand Gefallen an meinem lebhaften Temperament und meinen tollen Streichen. Er schleuderte mir zwar gelegentlich die ganze Auswahl von Flüchen, welche er seit 1790 im Felde erlernt und höchst sorgfältig in seinem Gedächtniß aufgestapelt hatte, im grimmigsten Commandotone entgegen, dieselben klangen aber drohender, als sie gemeint waren und endeten gewöhnlich damit, daß er mir eigenhändig eine Pfeife stopfte, mich einen verdammten Sansculotten nannte – zu welcher Bezeichnung übrigens nicht der geringste Grund vorhanden war – und schließlich bei allen Granaten und Bomben, die seit Julius Cäsar's Zeiten jemals platzten, beschwor, daß er noch nie einen gesunden Knaben gesehen, der nicht hundertmal verdient habe, gehangen zu werden.

Auf diese Weise sprach er sich gegen mich aus. Dagegen wurde es ihm nicht so leicht, sich »aus der Affaire zu ziehen,« wenn Klagen über meinen unregelmäßigen Schulbesuch einliefen, welches unerhörte Verbrechen, wie man mit sittlicher Entrüstung erklärte, einzig und allein meinem heimlichen Umherstreifen in[520] Wald und Flur und auf den Ufern des Rheins zuzuschreiben sei.

In solchen Fällen behauptete er kaltblütig, bereits in meiner allerfrühesten Kindheit eine große Vorliebe für die Natur an mir entdeckt zu haben, eine Vorliebe, die, wenn man sie nicht gewaltsam unterdrücke, von bedeutender Tragweite für meinen ganzen künftigen Lebensberuf werden könne, und daß höchst wahrscheinlich ein hervorragendes Genie in mir verborgen sei. Er bedauerte dann auch wohl, daß die Leiter der Schulen nicht besser verstanden, die Jugend durch das Baud der Liebe an sich und die Bänke zu fesseln, und verfehlte nie, hinzuzufügen, daß er selbst zu seiner Zeit der nichtswürdigste Galgenstrick gewesen sei, und es dennoch bis zum Oberstlieutenant und zum eisernen Kreuze gebracht habe.

Gegen derartige schlagende Beweise ließ sich freilich nichts einwenden; die Leute gingen, doch glaube ich nicht, daß sie einen sehr hohen Begriff von der Erziehungsmethode des alten Kriegers mit fortnahmen.

Unter solchen Umständen konnte es nicht fehlen, daß ich mit innigster Liebe an meinem Vormunde hing und ihm zu Gefallen, wer weiß was hätte aus mir machen lassen.

Leider sah ich ihn nur selten, indem ich der Schule wegen in der Stadt wohnte, während er, mit dem Posten eines Oberförsters betraut, an einem der anmuthigsten Punkte des Siebengebirges sein Domicil aufgeschlagen hatte. Ich brachte indessen, zur größten Genugthuung meiner sparsamen Pensionsvorsteherin, stets die Ferienzeit bei ihm zu, und beobachtete sehr strenge das zwischen uns stillschweigend getroffene Uebereinkommen, ihm erst am Tage meiner Abreise nach der Stadt und schon mit der Mütze in der Hand, meine Censur zur gefälligen Unterschrift zu überreichen.

Der gute, alte Vormund, durch seine Nachsicht und Milde bin ich wahrhaftig nicht schlechter geworden. Leider, leider war er nur zu bejahrt, als daß ich hätte hoffen dürfen, ihn bis in mein reiferes Alter hinein als meinen Katechismus betrachten zu können.

Ja, er zählte damals, als ich zur Universität abging, bereits einundsechszig Jahre; doch mochte die Zeit seine spärlichen Haare und den mächtigen Schnurbart hagelweiß gefärbt haben, mochten Runzeln sein ausgewettertes, gutes Gesicht nach allen Richtungen hin durchkreuzen und die männliche Fülle der Glieder allmälig einer mumienartigen Hagerkeit gewichen sein, eine straffere Haltung und einen festeren Schritt hätte man bei einem jungen Gardelieutenant nicht finden können. Dabei blitzte das eine graue Auge – das andere war ihm bei Jena von einem »unvorsichtigen Granatsplitter« ausgeschlagen worden – so jugendlich und doch so wohlwollend unter der buschigen, roth und weiß gemischten Braue hervor, und klirrten die Sporen – er hatte bei der Kavallerie gestanden – so lustig an seinen Stiefeln, und prangte das schönste aller Ehrenzeichen so stattlich auf seiner hohen, breiten Brust, daß der leibhaftige Kriegsgott Mars über den alten Helden in Extase hätte gerathen können, und die selige Bellona sich nicht gescheut haben würde, ihn persönlich an den Pforten des Himmels mit einem derben Handschlag zu begrüßen und zu ihrem Adjutanten beim nächsten Manöver zu ernennen.[521]

Doch im Himmel wird ja nicht manövrirt, und damals befand sich mein lieber alter Vormund ja noch nicht in der Lage, die himmlischen Freuden für sich herbeizuwünschen. Er nahm das Gewisse für das Ungewisse und lebte so glücklich und sorglos auf seiner Oberförsterei, wie es seine Mittel nur immer gestatten wollten, und ihm zur Seite lebte ebenso glücklich und zufrieden seine bejahrte Gattin, eine herzensgute, alte Dame, der man vielleicht nur den einzigen Vorwurf machen konnte, daß sie die himmlischen Freuden zu sehr von der strengen Beobachtung irdischer kirchlicher Formen abhängig glaubte. Sie war Katholikin, betrachtete die Geistlichkeit als etwas Ueberirdisches, glaubte an Wunder und betete und beichtete sehr viel, obwohl sie kaum andere Sünden zu beichten hatte, als etwa, daß sie ihrem »Allen« hin und wieder einmal nicht rechtzeitig den brennenden Fidibus zu seiner stereotypen Morgenpfeife darreichte, oder in ihrem Eifer, Alles zugleich zu besorgen, die Milch überkochen ließ.

Zu welchem Glauben der Oberstlieutenant sich bekannte, gab er vor, selbst nicht zu wissen. Er schwur aber darauf, an seinem Einsegnungstage mit einigen Kameraden über alle Berge gelaufen zu sein, in Folge dessen sein älterer, schon eingesegneter Bruder ihn habe vertreten müssen und zum zweiten Mal eingesegnet worden sei, während er, um die Sache nicht ruchbar zu machen, sich mit dem auf seinen Namen lautenden Konfirmationsschein begnügt habe.

Trotzdem hoffte er sehr stark auf die ewige Seligkeit, um so mehr, da sein zweimal konfirmirter Bruder bei Jena gefallen war und, nach seiner festen Ueberzeugung, die kleine Verwechselungsgeschichte beim lieben Gott bereits rapportirt und zu Aller Zufriedenheit geordnet habe.

Nach solchen Aeußerungen zu schließen, war mein Vormund also Protestant. Doch was er auch immer sein mochte, die Form der Gottesverehrung hatte nie Veranlassung zu Mißhelligkeiten zwischen den beiden ehrwürdigen Leuten gegeben. Der alte Herr ließ seine Gattin für sich mit beten, und dafür erlaubte er sich, – wie er sich sehr zart ausdrückte – gelegentlich für seine treue Ehehälfte ein kleines Donnerwetter unter das Hausgesinde zu dirigiren und auf diese Weise das Gleichgewicht wieder herzustellen.

Mein Vormund war also duldsam und liberal in Religionsangelegenheiten, und nachsichtig gegen Holzfrevler, namentlich wenn sie die Kriegsdenkmünze trugen und ihn, statt mit »Herr Oberförster,« »Herr Oberschleitnamp zu Befehl« anredeten.

Bei aller seiner Güte und Nachsicht besaß er aber auch eine empfindliche Seite – was übrigens ganz natürlich und erklärlich – die man nur schief anzusehen brauchte, um die ganze Hölle mit allen nur denkbaren Generationen von Teufeln, väterlicher sowohl, als mütterlicher Seits, auf den Leib gehetzt zu erhalten.

Für ihn gab es nämlich nur zwei Farben: schwarz und weiß; nur zwei Melodien: »Heil Dir im Siegerkranz« und »So leben wir;« nur einen Musterstaat: Preußen, und nur einen König: Friedrich Wilhelm den Dritten. Wäre er aber bevollmächtigt worden, in dem abgegriffenen Litaneibuch seiner Gattin einige Berichtigungen vorzunehmen, so würde er ganz gewiß[522] die Namen aller Heiligen, vom heiligen Nepomuck bis herab zu den heiligen Schuhnägeln des heiligen Ambrosius ausgestrichen, und dafür obenan den alten Fritz, die Königin Louise, Friedrich Wilhelm den Tritten, demnächst alle preußischen Prinzen, Prinzessinnen, Generale und sonstige ausgezeichnete preußische Helden eingetragen, und sich sogar nicht gescheut haben, statt der elftausend Jungfrauen, zu schreiben: Die Brigade so und so, die Division so und so, und dann, wenn noch einige Köpfe fehlten, die Schaar der Heiligen durch Namen aus der während des letzten Krieges von ihm selbst geführten Escadron vollzählig zu machen.

Dies sind also die beiden Leute, die mir nach dem Tode meiner Eltern am nächsten standen und welchen ich ein ganzes Herz voll kindlicher Liebe entgegentrug.

Sie selbst waren kinderlos, konnten mir also mehr Theilnahme zuwenden, wie es vielleicht im andern Falle geschehen wäre; und wenn es mir auch nicht beschieden ist, ihnen in ihrer letzten Stunde wie ein treuer Sohn zur Seite zu stehen, nicht schmerzbewegt in ihre brechenden Augen zu schauen, so weiß ich doch, daß beim Scheiden aus dieser Welt sie meiner segnend gedenken, ein Gebet für mein Lebensglück auf ihren Lippen schwebt. Ist es aber den Menschen vergönnt, mit fernen Lieben geistig in Verbindung zu treten, dann müssen sie längst wissen, daß meine treue, dankbare Anhänglichkeit, weit, weit über ihr, über mein Grab hinausreicht. –

Seit sechs Monaten war ich im schwarzen Sammetrock mit weißseidenem Futter als flotter Bursche in den krummen Straßen Bonn's umherstolzirt, seit sechs Monaten hatte ich mit lobenswerther Regelmäßigkeit den Fechtboden des Herrn Seger besucht, seit sechs Monaten, wenn es mir die Zeit erlaubte, auch den Collegien meine Aufmerksamkeit zugewendet, und nicht weniger als sechsmal war ich in den sechs Monaten auf der Mensur gewesen.

Eine sehr sauber geheilte Schmarre zierte meine rechte Wange, ein stattlicher Bart Mund und Kinn, meine starken braunen Haare fielen in Locken bis auf meine Schultern nieder, mein Kopf ragte noch eine gute Handbreit über die Köpfe anderer mittelgroßer Menschenkinder empor, kein Wunder daher, daß ich im jugendlichen Uebermuthe mich für eins der gelungensten Schöpfungswerke hielt und schließlich zu der Ueberzeugung gelangte, meine Blicke nur in die schüchternen Augen einer Jungfrau senken zu brauchen, um sie vor Liebesgram, wie eine frühzeitig geknickte Blume, dahinwelken und sterben zu machen.

Dergleichen Gefühle beseelten mich denn auch, als ich am zweiten Pfingsttage des Jahres 1832 vor dem Dorfe Godesberg mich von ewigen heiteren Commilitonen trennte und meine Schritte geraden Weges dem Mineralbrunnen zulenkte. Wir hatten verabredet, gegen Abend in einem der öffentlichen Gärten wieder zusammenzutreffen und von dort aus so geräuschvoll, wie möglich, die nächtliche Wanderung zurück nach Bonn anzutreten. Es blieben mir also noch mehrere Stunden, die ich ganz nach meinem eigenen Geschmack verbringen konnte, und da ich schon damals liebte, auf einsamen Spaziergängen mich rücksichtslos und so recht aus vollem Herzen dem[523] kühnen Fluge meiner Gedanken hinzugeben und mich mit dem Ausbau der phantastischsten Luftschlösser zu beschäftigen, so konnte eine romantische Umgebung, wie die von Godesberg, nur anregend auf mich einwirken.

Als mein Vormund behauptete, eine besondere Vorliebe für die Natur in mir entdeckt zu haben, hatte er die Wahrheit vollkommen getroffen, nur mit dem Unterschiede, daß er diesen Schluß aus meiner Abneigung gegen die Schulbänke zog, während der eigentliche Grund dafür richtiger in den Empfindungen zu suchen gewesen wäre, mit welchen ich Alles, was in den Bereich der Natur und ihrer still wirkenden Kraft gehörte, zu beobachten Pflegte.

So erfüllte mich auch ein unbeschreibliches Wohlbehagen, als ich in der alten, im heitersten Frühlingsgrün prangenden Allee dem Mineralbrunnen zuschritt.

Die knorrigen Baumstämme und das reiche Laub, die üppig wuchernden Gräser und die sich entfaltenden Blumen, die wunderbar schön gelegene Ruine Godesberg und den auf derselben mit tiefen Schatten malerisch abwechselnden Sonnenschein, die scharlachfarbig gesattelten Reitthiere und die sonntäglich geputzten Bäuerinnen, Alles, Alles hätte ich vor Freude und Wonne umarmen mögen, ohne mir so recht eigentlich Rechenschaft darüber ablegen zu können; nicht zu gedenken, daß meine Arme zu solchen Zwecken viel zu kurz waren und eben nur weit genug reichten, um hier einer mit Gebetbuch und Rosenkranz sittsam zur Nachmittagsmesse eilenden Dorfschönen schäkernd unter das runde Kinn zu fassen, dort einem allen, in wollener Zipfelmütze, kattunener Jacke, Kniehosen und Schnallenschuhen prangenden »Bestevader«1 freundschaftlich die Hand zu drücken und von allen Professoren der Universität auf das Angelegentlichste zu grüßen.

Die Mädchen schmollten, schauten sich aber – wie ich zu meiner Genugthuung mehrfach bemerkte – erröthend nach dem lustigen Burschen um; die Bestevaders schüttelten verwundert die Köpfe und kratzten sich hinter den Ohren, indem sie vergeblich darüber nachsannen, wo sie wohl die Bekanntschaft der gelehrten Herren gemacht haben könnten; ich dagegen schwang fröhlich meinen Ziegenhainer, und wie um die Lerchen, deren heitere Melodien die sonnige Luft erfüllten, zu beschämen, sang ich aus voller Brust:


»Am Rhein, am Rhein da wachsen unsre Reben!«


»Gesegnet sei der Rhein!« wiederholte ich noch einmal, als ich die tiefer gelegene Rotunde mit dem Mineralbrunnen vor mir sah, und in der nächsten Minute spiegelte ich mein geliebtes Ich in dem krystallklaren Born.

Nachdem ich aus der hohlen Hand getrunken – allerdings mehr aus Verehrung vor der aus tiefstem Erdenschooße hervorquellenden heilbringenden Ader, als weil mir das Wasser so gut geschmeckt hätte – sah ich um mich.

In weiterem Umkreise befanden sich wohl noch Menscher, die sich im Schatten der Bäume ergingen, an der Quelle selbst dagegen stand außer mir nur[524] noch ein Mann. Ich würde denselben kaum beachtet haben, wenn er nicht durch eine höfliche aber kalte Verbeugung meine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte.

»Ah, guten Tag Herr Bernhard,« rief ich in heiterm Tone, als ich einen jungen Theologen erkannte, der freilich schon seine Studien beendigt hatte, aber doch noch mit einzelnen der älteren Musensöhne verkehrte und dem ich bei einer solchen Gelegenheit vorgestellt worden war.

Auf mich hatte derselbe damals eben nicht den günstigsten Eindruck gemacht; denn abgesehen davon, daß sein gelblich bleiches, hageres Gesicht mit den tief liegenden aber klugen Augen, den vorstehenden Backenknochen und den schmalen, farblosen Lippen, dem schlichten schwarzen Haar und dem blau schimmernden, glatt geschorenen Kinn eine nichts weniger als vortheilhafte Zusammenstellung bildete, lag auch in seinem ganzen Benehmen, in seinem Lächeln wie in seiner Sprache, etwas eigentümlich Gemessenes, Lauerndes und Berechnendes, was durch eine süßlich verbindliche Miene zu verbergen er sich vergeblich bemühte.

Woher er stammte und was er zunächst bezweckte, wußte Niemand von uns. Wir wußten nur, daß er vor zwei Jahren in Bonn erschienen war, dort die theologischen Collegien noch anderthalb Jahre mit großer Regelmäßigkeit besucht hatte, trotz seiner stets rechtzeitig einlaufenden Wechsel sich nie an einem Commers betheiligte, was sich freilich durch den von ihm gewählten Beruf entschuldigen ließ, und daß er endlich ein ganz ausgezeichneter Schläger war.

Letzterer Umstand diente dazu, ihm, wenn auch keine freundliche Zuneigung, so doch einen gewissen Grad von Achtung unter seinen Commilitonen zu verschaffen, obwohl sich Niemand zu erinnern wußte, daß er jemals im ernsten Kampfe sich mit einem Andern gemessen oder auch nur die leiseste Veranlassung zu einem Touch und darauf folgender scharfer Paukerei gegeben hätte.

Er war immer derselbe höfliche, süßlich lächelnde und doch auch wieder ein hohes Uebergewicht verrathende Denker, der zwar keine erklärten Feinde unter seinen Mitstudirenden besaß, aber auch weit entfernt davon war, sich eines wirklichen Freundes rühmen zu können.

Auf mich machte er stets den Eindruck eines verkappten Jesuiten, so wie ich mir dieselben in meinen Schuljahren vorgestellt hatte, und ich konnte ihn nie ansehen, ohne eine tiefe, an Widerwillen grenzende Scheu vor ihm zu empfinden.

Als ich seiner nun so plötzlich auf der andern Seite des Brunnens ansichtig wurde, hegte ich die redliche Absicht, meinen Widerwillen durch ein herzliches Entgegenkommen niederzukämpfen und zu besiegen, und mit einer Freimüthigkeit, welche meiner glücklichen Stimmung in jeder Beziehung entsprach, schloß ich an meinen Gruß die Bemerkung, wie sehr ich mich freue, ihn, den ernsten Denker, einem reinen Naturgenuß so gänzlich hingegeben, zu überraschen.

»Gerade die Denker sind oft am meisten geneigt, die Natur zum Gegenstande ihrer Betrachtungen zu wählen,« entgegnete er mit einem verbindlichen Lächeln, wählend aus seinen Augen verstohlen das[525] Mißvergnügen leuchtete, welches er über unser Zusammentreffen empfand.

»Gewiß,« versetzte ich schnell, »doch glaube ich fast, behaupten zu dürfen, daß der eigentliche Genuß der Natur darin besteht, daß man sich liebevoll zu ihr hinneigt und sich an dem uns sichtbaren, verständlichen und begreiflichen Theil derselben ergötzt, anstatt mit Gewalt in ihre verborgensten und unerklärlichen Geheimnisse eindringen zu wollen, indem ungelöste, ich sage mehr: unlösbare Räthsel stets ein Gefühl der Nichtbefriedigung oder gar der Unzufriedenheit hinterlassen.«

Ueber Bernhard's Züge flog das mir so unangenehme Lächeln geistiger Ueberlegenheit, und nachdem er einen halb ängstlichen, halb gespannten Blick nach der Allee hinüber gesandt, wendete er sich mir wieder zu.

»Und sollte die von Ihnen eben ausgesprochene Ansicht für sich betrachtet nicht schon genug Stoff zum Denken bieten?« begann er zögernd, »ich will indessen damit nicht sagen, daß dieses bei mir gerade jetzt der Fall gewesen wäre. Auch ich bewundere die Natur im Großen und Ganzen mit andächtigen Gefühlen und dankbarem Herzen, wie ich mich beim Anblick einer schönen Blume oder über den Gesang der Nachtigall innig freue. Tiefer in die Geheimnisse der Schöpfungswerke eindringen zu wollen, liegt mir dagegen fern; schon des Beispiels wegen möchte ich es nicht. Erhalten wir doch täglich immer neue Beweise, daß die Erfolge ernsten Forschens im Reiche der Natur entsittlichend auf die Menschheit einwirken, ganz abgesehen davon, daß die Forscher selbst sich sehr bald und leicht daran gewöhnen, alles Göttliche abzuleugnen und die größten Wunderwerke der Schöpfung auf irgend eine ihnen passend erscheinende Ursache, zum Beispiel auf den ewigen natürlichen Kreislauf im Weltall zurückzuführen.«

»Nur bis zu einer gewissen Grenze kann ich Ihnen beistimmen,« erwiderte ich, obwohl ich einsah, daß es mir nie gelingen würde, meinen Ansichten bei ihm Eingang zu verschaffen, »der beschränktere Geist, oder vielleicht richtiger bezeichnet: der wenig vorbereitete Geist, der einen Blick in das verborgene Wirken und Walten der Natur gethan, kann nur in der von Ihnen angedeuteten Weise abirren. Der Forscher dagegen, der sich über den Bereich oberflächlicher Beobachtungen und unreifer Schlüsse hinauswagt, liebevoll den Sinn der Natur zu errathen strebt und Gottes erhabenes Reich lernend und belehrend durchwandert, wird, ähnlich dem Kinde, welches ahnungsvoll über die Farbenpracht einer Blume, über den Glanz des unzählbaren Sternenheers staunt, sich fromm vor einer schöpferischen, Alles umfassenden Macht beugen und selbst in dieser, über mineralische Lager hinrieselnden Quelle die Gottheit verehren, ohne dabei den Mangel systematisch geordneter Formeln zu empfinden.«

Im Eifer hatte ich meine Stimme immer mehr erhoben, und als ich schloß, tauchte ich, von Enthusiasmus hingerissen, meinen Ziegenhainer bis zur Hälfte in den runden, glänzenden Wasserspiegel. Indem ich dann aber meine Blicke auf Bernhard richtete und einen spöttischen Ausdruck in seinen düster glühenden Augen entdeckte, gereute es mich, so weit[526] gegangen zu sein und meine Ansichten so offen vor ihm dargelegt zu haben. Ich fühlte, daß ich ihn durch mei nen Widerspruch und gerade durch die in demselben enthaltene Wahrheit verletzt hatte.

»Dann haben Sie die Grenze, welche den Atheismus von der Religion scheidet, Wohl schon überschritten?« fragte er mit einer sarkastischen Freundlichkeit, welche mir das Blut des aufflammenden Zorns bis in die Schläfen hinauftrieb.

Ich wollte eine heftige Antwort ertheilen, bemerkte indessen, daß, indem Bernhard abermals nach der Allee hinüberschaute, seine Züge sich plötzlich wie durch Zauber glätteten und einen mir an ihm fremden Ausdruck bescheidener Anspruchslosigkeit erhielten.

Natürlich folgte ich mit den Äugen der Richtung seiner Blicke und nicht wenig überraschte es mich, in einer jungen Dame die Veranlassung zu der unerwarteten Aenderung seines Wesens zu entdecken.

Dieselbe ritt auf einem nach dortiger Sitte scharlachfarbig gesattelten Esel, der von einem bejahrten Treiber sehr behutsam am Zügel geführt wurde. Offenbar wollte der alte Mann das vorsichtige Thier die wenigen Stufen hinunter und bis an den Brunnen vortreten lassen; auf eine leise ausgesprochene Bitte der jugendlichen Reiterin stand er indessen von seinem Vorhaben ab, dagegen half er ihr aus dem Sattel, worauf sie sich zögernden Schrittes der Quelle näherte.

Wenn nun die junge Fremde durch ihr Erscheinen einen besänftigenden Eindruck auf Bernhard ausübte, so war ich einem derartigen Einfluß in nicht geringerem Grade unterworfen; denn der erste Anblick derselben genügte schon, mich nicht nur die eben geführte Unterhaltung, sondern auch denjenigen, mit dem ich sie geführt, vollständig vergessen zu lassen. War mir doch, als sei eine Heilige aus einem raphaelschen Madonnenbilde niedergestiegen, um in frommer Weise die Heil spendende Quelle zu segnen. Es ruhte wenigstens auf den holden jungfräulichen Zügen ein solcher Schimmer tiefer Frömmigkeit, daß dadurch ein derartiger Gedanke sehr nahe gelegt wurde.

Ihre Gestalt war schlank, vielleicht noch etwas unter der gewöhnlichen Mittelgröße, und zeigte sie auch nicht die üppigen Formen einer reiferen Jungfrau, so entdeckte man doch leicht, daß sie, obwohl erst auf der äußersten Grenze der Kindheit angekommen, bereits den höchsten Grad ihres Wachsthums erreicht hatte.

Ihre schwarzen Haare fielen in dichten, seidenweichen Locken auf ihre Schultern nieder, ebenso schmückten schwarze Brauen und Wimpern ihre Weiße Stirne und die niedergeschlagenen Augenlider, einen reizenden Contrast zu der zarten, fast durchsichtigen Farbe des lieben Antlitzes bildend. Die Nase war sanft gebogen und erinnerte entfernt an das Profil der Südländerinnen, der Mund fein geschnitten, einer sich erschließenden Rosenknospe ähnlich, und auf den nicht ganz vollen aber classisch abgerundeten Wangen bis zu den reinen Schläfen hinauf thronte ein lieblicher, rosenfarbiger Hauch, der sich indessen mehr als die Folge mädchenhafter Verlegenheit, als strotzender Gesundheit bekundete. Ueberhaupt schien eine äußerst zarte Gesundheit in dem ätherischen, sylphenartigen Körper zu wohnen, was indessen weniger hervortrat, weil ihre Haltung eine aufrechte, dabei aber natürliche[527] war, und in ihren anmuthigen Bewegungen sich eine gewisse jugendliche Kraft verrieth.

So trat die junge Fremde zu uns heran, den runden italienischen Strohhut, der ihr beim Absteigen wahrscheinlich hinderlich gewesen, vor sich tragend, und nicht eher schlug sie die Augen zu uns auf, als bis sie sich dicht vor dem ausgemauerten Brunnenkessel befand.

Sie schlug die Augen empor, und nur mit Mühe hielt ich einen Ausruf des Erstaunens zurück, als ich, anstatt in zwei dunkle, den schwarzen Haaren und Brauen entsprechende Augen zu blicken, zwei milde blaue Sterne auf mich gerichtet sah.

Die Anwesenheit zweier ihr fremden Männer an der Quelle, die sie offenbar zu so früher Nachmittagsstunde vereinsamt geglaubt hatte, vergrößerte sichtbar ihre Verlegenheit, und daß Bernhard sowohl als ich sie mit bewundernder Neugierde betrachteten, diente am wenigsten dazu, sie wieder zu beruhigen.

Erst als sie sich, zu Bernhard gewandt, kaum merklich verneigte, gewahrte ich, daß dieser höflich grüßend seinen Hut gezogen hatte, aber um keinen Preis hätte ich seinem Beispiel folgen mögen; ich hegte eine zu große Abneigung gegen ihn, um, wenn auch nur scheinbar, eine Lehre oder Zurechtweisung von ihm anzunehmen.

»Mein Fräulein, Sie wollen trinken,« sagte er mit gütiger, einschmeichelnder Stimme, als er bemerkte, daß die junge Fremde, vor Befangenheit bald erbleichend, bald erröthend, nach dem gewöhnlich auf dem Rande der Quelle liegenden Becher spähte, den er ohne Zweifel bereits vor meiner Ankunft entfernt hatte.

»Ich suche den Becher,« stammelte die Angeredete leise, »er ist nicht hier, ich werde mir ein Glas aus dem nächsten Hause holen.«

»Hier ist eins,« versetzte Bernhard, ein kunstvoll geschliffenes Krystallglas hervorziehend und aus der Quelle füllend, »nehmen Sie hin, mein Fräulein, und leeren Sie es zur Ehre desjenigen, der diese Quelle der leidenden Menschheit zum Heile schuf.«

Der salbungsvolle, innige Ton, in welchem Bernhard sprach, empörte mich dermaßen, daß ich ihm den Becher hätte entreißen und in den Brünnen schleudern mögen, wenn ich nicht befürchtet hätte, durch einen derartigen Auftritt das arglose Kind zu erschrecken. Ebenso widerwärtig wäre es mir aber auch gewesen, das holde Wesen den Becher aus den Händen des scheinheiligen Menschen nehmen zu sehen. Schnell entschlossen riß ich daher die kleine silbergestickte Mütze von meinem Kopfe, und dieselbe hastig umkehrend und mit Wasser füllend, reichte ich der jungen Fremden die improvisirte Schale dar.

»Trinken Sie, mein Fräulein,« rief ich enthusiastisch aus, in meinem gewagten Spiel gegen Bernhard Alles auf einen Wurf setzend, »trinken Sie, und verschmähen Sie nicht die Gabe eines fahrenden Ritters; trinken Sie und gedenken Sie dabei aller Derjenigen, denen Sie in Liebe zugethan sind!«

Das arme Mädchen befand sich in einer peinlichen Lage; die wunderbar schönen Augen wanderten mit einem rührend stehenden Ausdruck von dem Einen zum Andern hinüber; die zarte Röthe wich aus ihren Wangen, doch kehrte sie schnell in der Form von zwei[528] runden, tiefrothen Maalen zurück, welche die Reize des schönen Antlitzes wo möglich noch erhöhten. Ich empfand das innigste Mitleiden, und dennoch hätte ich nicht vermocht, um ihr die Entscheidung zu erleichtern, zurückzutreten und meinem zufälligen Nebenbuhler den Vorrang zu lassen, um so mehr, da dieser, im sichern Bewußtsein seines Sieges, mit einem mitleidigen Lächeln meine triefende Mütze flüchtig betrachtete.

Diese Scene dauerte keine Minute, denn die junge Fremde überwand ihre Verlegenheit schneller, als ich erwartet hätte. Sie bückte sich nämlich zu der Quelle nieder, und ihre kleine wohlgeformte Hand in das klare Wasser tauchend, sagte sie, die Augen verschämt niederschlagend: »Diogenes, von einem Hirtenknaben belehrt, verschmähte den Becher und trank aus der hohlen Hand; dem Andenken meiner Lieben,« fügte sie dann kaum verständlich hinzu, indem sie einige Tropfen schlürfte, »und zur Ehre Gottes,« sprach sie etwas lauter, worauf sie die Hand zum zweitenmal in die Quelle tauchte und gefüllt an ihre frischen rochen Lippen führte.

»Auf das Wohl der schönen Wanderin, die mit sicherem Scharfblick und überraschender Geistesgegenwart die richtige Mittelstraße zu finden wußte!« rief ich aus, einige tiefe Züge aus meiner Mütze trinkend und demnächst den Rest, wie einen Sprühregen, rückwärts schleudernd.

Die junge Fremde dankte durch ein leichtes Neigen ihres Hauptes und wendete sich ab, um sich zu ihrem Reitthier zu begeben. Sie hatte indessen noch keine zwei Schnitte gethan, als das laute Klirren, mit welchem Bernhard seinen Becher auf den Fliesen zertrümmerte, sie veranlaßte, noch einmal zurückzuschauen und sich dann mit beschleunigter Eile zu entfernen.

Es war dies das erste, aber auch das letzte Mal, daß meines Wissens Bernhard sich von seinen Gefühlen hinreißen ließ und übereilt und unüberlegt handelte. Ich folgerte daraus den hohen Grad seiner Enttäuschung und daß er vielleicht schon seit Stunden an dieser Stelle auf die Gelegenheit gewartet habe, sich dem jungen Mädchen zu nähern. Weniger erklärlich war mir dagegen der Blick des giftigsten Hasses, der mich ganz flüchtig aus seinen düsteren Augen traf, und der Wohl kaum durch mein an sich harmloses Durchkreuzen seiner Pläne allein hervorgerufen sein konnte.

Den Blick hätte ich ihm wohl vergeben, das absichtliche Erschrecken des jungen Mädchens dagegen erschien mir als ein unverzeihliches Verbrechen, welches die härteste Strafe verdiente. Meiner ersten Regung folgend, schritt ich daher um den Brunnen herum, und nachdem ich Bernhard mit unterdrückter Stimme einen nur mit Blut zu sühnenden Namen beigelegt, eilte ich, ohne ihn weiter meiner Beachtung zu würdigen, der Fremden nach.

Ich traf bei ihr ein, als sie ihr Reitthier eben wieder bestiegen hatte und der Führer den Zügel ergriff, um den Weg nach der Ruine Godesberg hinauf einzuschlagen. Der Ausdruck des Schreckens war noch nicht aus ihrem lieben Antlitz gewichen, doch dankte sie freundlich und unbefangen, als ich sie bat, mir zu verzeihen, durch mein unzeitiges Dazwischentreten[529] Veranlassung zu der so wenig ergötzlichen Scene gegeben und sie in eine so unangenehme Lage gebracht zu haben.

Der Führer hatte sich unterdessen in Bewegung gesetzt, und da ich in ihren Augen zu lesen glaubte, daß ich eine Antwort von ihr zu erwarten habe, so nahm ich dies für die Erlaubniß, neben ihren, Thier herschreitend, sie begleiten zu dürfen.

Fußnoten

1 Großvater.


Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 530.
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