Drittes Capitel.

Die Weissagung.

[530] Ich las also in ihren holden Zügen eine freundliche Gewährung meines noch nicht ausgesprochenen Wunsches, doch bemerkte ich zugleich, daß sie, so lange die Quelle noch in unserm Gesichtskreise lag, zuweilen besorgt nach Bernhard zurückschaute, der, gesenkten Hauptes, wie in tiefen Betrachtungen, auf derselben Stelle stehen geblieben war.

Wie bei ihm Alles auf schlauer Berechnung beruhte, war auch seine Stellung unstreitig eine mit Vorbedacht gewählte. Er setzte eben voraus, daß die junge Fremde, welche man mit einer schüchternen, geängstigten Taube hätte vergleichen mögen, sich nach ihm umsehen würde.

Erst als die nächsten Hecken und Baumgruppen uns den Anblick Bernhard's entzogen, schien sie freier aufzuathmen, und sich mir mit einem fast kindlichen, aber etwas erzwungenen holdseligen Lächeln zuwendend, ging sie auf eine Unterhaltung mit mir ein.

»Ich sollte es vielleicht nicht sagen,« begann sie, und ihre Wangen färbten sich vor einem letzten Anflug von Befangenheit etwas dunkler, »und doch darf ich auch wieder nicht ungerecht sein. Ich muß nämlich einräumen, daß Ihr zufälliges Dazwischentreten keineswegs die Bezeichnung eines unzeitigen verdient. Es war mir willkommen, dem nähern Verkehr mit dem fremden Herrn ausweichen zu können; ich erkannte ihn nur zu spät, oder ich würde, anstatt anzuhalten, geraden Weges nach dem Godesberg hinaufgeritten sein und erst auf dem Heimwege die Quelle besucht haben.«

»So war dies wohl nicht die erste Begegnung?« fragte ich, weniger aus Neugierde, als um meine holde Gefährtin sprechen zu machen und noch länger den Ton ihrer süßen melodischen Stimme zu hören.

»Die erste Begegnung nicht, denn ich bemerkte ihn schon heute Vormittag,« lautete die mit lieblicher Offenheit gegebene Antwort, »seine Blicke schienen mich förmlich durchbohren zu wollen, so fest hafteten sie auf mir. In meiner frühsten Jugend habe ich einmal ähnliche Augen gesehen, die mich im wachenden Zustande sowohl, als in meinen Träumen noch lange nachher ängstigten und verfolgten, und daher rührt auch wohl meine kindische Furcht vor dem fremden Herrn, der mir sonst doch nichts zu Leide gethan hat.«

»Haben sie denn oft Gelegenheit jenem Herrn zu begegnen?«

»Oft nicht, denn er muß doch wohl in Bonn wohnen, aber mehrfach schon, im Siebengebirge wie auch hier, traf ich ihn, als ob ihm jedesmal die Richtung unserer Vergnügungsfahrten mitgetheilt worden wäre und er mich in Folge dessen erwartet habe.«[530] »Dann wohnen Sie selbst also nicht in Bonn? aber verzeihen Sie, meine zudringlichen Fragen und legen Sie denselben kein schwereres Gewicht bei, als daß ich die einmal begonnene Unterhaltung gern weiterspinnen möchte. Offenbar haben wir ein und dasselbe Ziel, und worum sollte man sich nicht der Sprache bedienen, um die Zeit zu verkürzen?«

»Bonn kenne ich noch nicht; ich habe die so reizend gelegene Stadt Wohl von den Höhen des Siebengebirges aus gesehen, auch schon von hier aus, allein dort gewesen bin ich noch nicht. Ich befinde mich überhaupt erst seit sechs Wochen in dieser Gegend.«

»Aus Ihrem Mitteilungen läßt sich entnehmen, daß Sie im Siebengebirge ihren Aufenthalt gewählt haben?«

»An einem der reizendsten Punkte des Siebengebirges. Ein Onkel von mir, der dort den Posten eines Oberförsters bekleidet, hat mich zu sich in's Haus genommen. O, es ist so schön auf dem stillen, einsam gelegenen Gehöft, und die guten alten Leute –«

»Meines Wissens lebt nur ein Oberförster im Siebengebirge,« unterbrach ich meine jetzt unbefangen plaudernde Gefährtin hastig, denn ich erschrak fast bei dem Gedanken, daß die anmuthige Erscheinung vielleicht gar die Nichte meines alten verehrten Vormundes sei, »ja, nur ein Oberförster,« wiederholte ich sinnend, indem ich den Plan faßte, im Fall sich meine Vermuthung bestätigen sollte, mich vorläufig nicht zu erkennen zu geben, »und irre ich nicht, so ist es der Oberstlieutenant Werker, der nach Beendigung des Krieges für seine treuen Dienste und schweren Wunden, in dieser Weise mit einem ihm zusagenden halben Ruheposten bedacht worden ist.«

»Der Oberstlieutenant Werker ist ja mein Onkel!« rief das junge Mädchen vor Freude erröthend aus, und ihr ganzes Wesen bekundete, daß durch meine Bekanntschaft mit ihrem Onkel ihr Vertrauen zu mir eine bedeutende Stütze erhalten habe.

»Wunderbar, und mir ist nichts davon mitgetheilt worden,« bemerkte ich unbedachtsam, denn die Freude, ein so schönes Mädchen als die nächste Verwandte meines Vormundes begrüßen zu dürfen, erfüllte mich in so hohem Grade, daß ich darüber alle Vorsicht vergaß und mich beinah verrathen hätte. Glücklicher Weise hatte sie mich nur halb verstanden, und ihre blauen strahlenden Augen auf mich heftend, fragte sie, wem ich die Mittheilung machen wolle?

»Einem Studiengenossen,« antwortete ich, nunmehr vollständig bereit, meine Rolle ohne Fehler zu Ende zu spielen, »einem gewissen Gustav Wandel, der die Ehre hat, den Herrn Oberstlieutenant Werker seinen Vormund zu nennen.«

»Auch den Herrn Gustav Wandel kennen Sie?« fragte das liebe Mädchen mit einer so herzlichen Theilnahme, daß ich ihr dafür auf jedes ihrer beiden seelenvollen Augen einen Kuß hätte drücken mögen.

»Den Gustav Wandel?« fragte ich lachend zurück, »o, den Schlingel kenne ich so genau, wie mich selbst, und genau muß ich ihn Wohl kennen, indem wir seit unserer frühsten Kindheit gewöhnlich auf derselben Bank gesessen haben. Uebrigens ist er, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben wollen, ein arger[531] Windbeutel; man nimmt allgemein an, daß sein Vormund ihm die Zügel etwas zu schlaff gehalten habe. Er schwärmt für den Fechtboden, betheiligt sich an jedem Commers und betrachtet die Collegien mehr als Nebensache.«

»Das begreife ich nicht,« entgegnete die junge Dame ernst, »Sie sind sein Freund und Gefährte und fällen ein so hartes Urtheil über ihn? Nein Onkel spricht sich ganz anders über ihn aus. Er nennt ihn stets einen braven, pflichttreuen Menschen, einen wahren Musterstudenten. Zwar räumt er ein, daß derselbe eine ausgezeichnete Klinge schlage – ich gebrauche meines lieben Onkels eigene Worte,« – schaltete sie lächelnd ein, »und sich ebenso gut zum Kavallerie-Offizier, wie zum Rechtsgelehrten eigne, doch vergißt er dann nie, hinzuzufügen, daß dergleichen sich sehr gut mit Latein und Griechisch vertrage und Herrn Wandel nicht hindere, dereinst Minister zu werden.«

»Also eine so gute Meinung hat der alte Herr von dem Gustav? Nun, Freund Gustav wird sich freuen, dies von mir zu hören. Aber merkwürdig bleibt es doch, daß der Schlingel mir, seinem ältesten und besten Freunde nicht mittheilte, daß sich Besuch im Hause seines Vormundes befände; und ich sollte denken, die Ankunft einer jungen liebenswürdigen Verwandten wäre doch ein Ereigniß, wichtig genug, es auch in weiteren Kreisen bekannt zu machen.«

Bei dieser Schmeichelei trieb meine Gefährtin ihr Thier an, als ob sie aus meiner Nähe hätte eilen wollen; doch der Esel sowohl, wie der Führer schienen nicht geneigt, ihre Wünsche zu berücksichtigen, und so war sie gezwungen, sich in's Unabänderliche zu fügen.

»Herr Gustav Wandel ist kein Verwandter von mir,« sagte sie endlich, nachdem sie das erste Mißvergnügen über meine ihr unpassend erscheinende Bemerkung niedergekämpft hatte.

»Was ich auch nicht behaupte mein Fräulein; ich erlaubte mir nur anzudeuten, daß bei der hohen Verehrung, mit welcher Wandel stets seines Vormundes gedenkt, die nächsten Verwandten desselben ihm ebenfalls nicht ganz gleichgültig sein dürften. Ich setze übrigens voraus, daß er um Ihre Anwesenheit im Hause des Herrn Oberstlieutenant weiß und irgend ein geheimer Grund ihn zurückgehalten hat, darüber zu sprechen.«

»Nein, er weiß nichts von mir und wird auch nicht früher etwas über mich erfahren, als bis er sich einmal wieder zum Besuch auf der Oberförsterei einstellt. Er hat nämlich seinen Vormund in letzter Zeit sehr vernachlässigt – der einzige Vorwurf, welchen ihm derselbe macht – und sich seit zwei Monaten nicht sehen lassen. Mein guter Onkel hat in Folge dessen beschlossen, ihn dadurch zu strafen, daß er ihm nicht ein Sterbenswörtchen über mich oder meine Aufnahme in seine Familie mittheilt; nicht wahr?« fügte sie sodann holdselig erröthend und schalkhaft lächelnd hinzu, »alte Leute haben manchmal ihre eigenen Ideen; als ob Herr Gustav Wandel bei seinen Studien Zeit hätte, sich um kleinliche Familienangelegenheiten zu kümmern, oder sich durch meines Onkels Verfahren sonderlich gestraft fühlen würde.«

»Ah, mein Fräulein, ich kenne den Herrn Gustav[532] Wandel genügend, um Ihnen versichern zu dürfen, daß sein Vormund keine härtere Strafe für die unverzeihliche Vernachlässigung hätte ersinnen können. Gedulden Sie sich nur, er selbst wird bald genug diese meine Worte vor Ihnen wiederholen und bekräftigen. Ich für meine Person finde es wenigstens unverantwortlich von ihm, daß er verabsäumt, seinem verehrungswürdigen Vormunde hin und wieder einen Besuch abzustatten und sich nach dem Befinden seiner liebenswürdigen Gattin zu erkundigen; gewiß, dafür kann er nicht zu strenge bestraft werden. Aber es verhält sich genau so, wie ich sagte, er ist ein Windbeutel durch und durch und verdient die freundliche Theilnahme nicht, die ihm von allen Seiten gezollt wird.«

»Sie tadeln den Abwesenden so scharf,« entgegnete das junge Mädchen mit einem leisen Vorwurf im Ton, »sollte man da nicht den Verdacht fassen können, des Herrn Gustav's ältester Freund und Gefährte verdiene wenigstens ebenso viel Tadel?«

Meine Lage kam mir jetzt so komisch vor, daß es mich Mühe kostete, ein lautes Lachen zu unterdrücken, was von meiner arglosen Gefährtin unbedingt zu meinem Nachtheil gedeutet worden wäre und mich gezwungen hätte, die ganze Wahrheit einzugestehen.

»Es mag unpassend erscheinen, mich zu meinem eigenen Lobredner auszuwerfen,« sagte ich, sobald ich die erforderliche Fassung gewonnen, indem ich eine bemüthig bescheidene Miene annahm, die sogar dem hinterlistigen Bernhard Ehre gemacht haben würde, »allein Ihr Vorwurf ist so bitter, daß ich ihn unmöglich stillschweigend hinnehmen kann«. Keineswegs gebe ich mich für einen Halbgott aus, allein wenn mein Freund Gustav nur die Hälfte der Rathschläge befolgte, welche ich ihm oft in stillen Stunden, namentlich nach einer lustig durchschwärmten Nacht ertheile, so würde er ganz gewiß mit vollem Recht auf seines ehrwürdigen Herrn Vormundes Bezeichnung: »Musterstudent« Anspruch machen können. So aber siegt sein Leichtsinn leider zu oft über meine Vernunftgründe und ich werde, eh' ich mich dessen versehe, mit in den wilden Strudel hineingerissen.

»Was allerdings nicht zu sehr für Herrn Wandel's ältesten Freund und Gefährten spräche,« bemerkte meine Begleiterin schalkhaft, doch in demselben Augenblick, als wenn sie befürchtet hätte, zu viel gesagt zu haben, wendete sie sich erröthend ab.

»Befindet sich der Herr Oberstlieutenant ebenfalls hier?« fragte ich, nachdem ich mich eine Weile an der bezaubernden Verlegenheit des lieblichen Kindes geweidet hatte.

»Mein Onkel und meine Tante sind beide hier; wir sind in Fuchs' Hotel abgestiegen. Ich bat sie dringend, mich nach dem Godesberg hinauf zu begleiten, allein alle meine Bitten, selbst meine Versicherung, nicht ohne ihren Schutz reiten zu wollen, waren vergeblich. Es genügte, den Wunsch die Ruinen zu besuchen, ausgesprochen zu haben, um meinen Onkel zu bewegen, selbst ein Reitthier und einen verständigen Führer herbeizuholen, und mir fast ebenso schnell auf den Sattel zu helfen und glückliche Reise zu wünschen.«

»Seine Kräfte reichen Wohl nicht mehr zu einem so weiten Spaziergange aus?«[533]

»Leider nicht, der liebe alte Herr will es aber nicht zugestehen und schiebt Alles auf die gute Tante, die nicht mehr Berge ersteigen könne.«

»Aber es halten doch überall Reitthiere im Ueberfluß, um den Gästen den Besuch entfernterer Punkte zu erleichtern.«

»O, Reitthiere genug, aber ich glaube, mein Onkel bliebe lieber ein ganzes Jahr auf ein und derselben Stelle sitzen, eh' er einen Esel bestiege. Sie müssen nämlich wissen, er ist Kavallerie-Offizier gewesen, und da kann ich ihm in seinem Vorurtheil gegen alle andere Arten, als auf einem Pferde zu reiten, nur vollkommen recht geben.«

»Das heißt die Vorurtheile doch etwas zu weit ausdehnen,« versetzte ich auf's innigste ergötzt, daß sie die Sache ihres Onkels zu der ihrigen machte und seine mir bereits seit meiner Kindheit bekannte Schwäche beschönigte.

»Wenn Sie so alt wären wie mein Onkel, und wie er, in den Freiheitskriegen eine Armee, oder wer weiß was commandirt hätten, wurde Ihr Urtheil anders lauten,« gab sie schnell zur Antwort, »aber sagen Sie ihm das lieber selbst, vielleicht gelingt es ihm leichter, wie mir, Sie zu überzeugen. Ich mache Sie indessen vorher darauf aufmerksam, daß er sehr leicht in Eifer geräth,« fügte sie mit einem schelmischen Lächeln hinzu.

»Wenn ich Gelegenheit finde, mit ihm zusammenzutreffen, möchte ich es wirklich einmal darauf ankommen lassen.«

»O, eine solche Gelegenheit wird sich bald genug bieten. Die beiden guten Alten wollen mir bis zum Mineralbrunnen entgegengehen, und wenn Sie –«

»Und wenn Sie mir gestatten wollen, so lange Ihr Begleiter zu sein,« fuhr ich fort, als sie verlegen stockte, »so könnte ich vielleicht die Ehre haben, durch Sie Ihrem Herrn Onkel vorgestellt zu werden?«

»Nun – ja – und ich bezweifle nicht, daß Sie ihm sehr willkommen sein werden, zumal Sie ihm die neuesten Nachrichten über seinen lieben Gustav Wandel bringen.«

»Die allerneusten Nachrichten über das Wohlbefinden des leichtsinnigen Patrons,« pflichtete ich bei, nachdem ich mich einen Augenblick abgewendet hatte, um einen drohenden Ausbruch verrätherischer Heiterkeit niederzukämpfen und meine Züge wieder in ernstere Falten zu legen.

»Einen Rath muß ich Ihnen aber doch ertheilen,« fügte sie nach kurzem Sinnen zögernd hinzu, »alte Leute verdienen stets die größte Rücksicht, namentlich aber ein so tapferer Krieger und liebevoller Onkel; ich bitte Sie daher, wenn Sie mit ihm über Herrn Wandel sprechen, nicht – ich meine –«

»Ihn nicht Schlingel und leichtsinnigen Patron zu nennen?«

»Ja, das meinte ich; ich bin überzeugt, Sie denken sich nichts Böses dabei, denn Sie nennen ihn ja Ihren Freund, allein mein Onkel kann nicht leiden, wenn man auch nur im Scherz schlecht von seinem Schützling spricht – ich denke, die Zusammenkunft wird jedenfalls eine angenehmere Färbung tragen, wenn Sie« –

»Wenn ich mich befleißige, einen gewissen, seinen Vormund auf unverantwortliche Weise vernachlässigenden[534] Gustav Wandel als einen Engel im Studentenkleide darzustellen,« unterbrach ich meine anmuthige Vertheidigerin.

»Ja, aber auch darin dürfen Sie nicht zu weit gehen, denn mein Onkel ist sehr leicht zu erzürnen und weiß Ernst und Ironie genau von einander zu unterscheiden.«

»Bauen Sie darauf, mein Fräulein, ich werde mich ganz in dem von Ihnen gewünschten Sinne benehmen, wenn auch nur, um Ihnen gefällig zu sein –«

»O, meinetwegen nicht,« fiel das reizende Kind mir stotternd in die Rede, »nur meines Onkels und Ihrer selbst wegen; ich kenne den Herrn Wandel ja nicht einmal.«

»Dann soll er sich Ihnen in nächster Zeit vorstellen, ich werde ihn mit Vorwürfen überhäufen und ihm sagen –«

»Nein, sagen Sie ihm lieber nichts, es sei denn, mein Onkel ermächtigte Sie dazu. Wenn er sich so lange nicht hat sehen lassen, ist jetzt erst recht kein Grund vorhanden, daß er sich plötzlich, durch fremde Menschen darauf aufmerksam gemacht, der Oberförsterei im Siebengebirge erinnert.«

»Auch das verspreche ich Ihnen, mein Fräulein, ich verspreche Ihnen bei meiner Ehre, keine Silbe von Ihnen oder der Oberförsterei zu erwähnen.«

»Meines Onkels wegen, der schon ungeduldig wird, möchte ich wohl, daß er seinen Besuch nicht zu weit hinausschöbe,« versetzte sie, offenbar nicht ganz einverstanden damit, daß ich es förmlich abgelobte, dem Erwarteten auch nur einen Wink zu geben.

»Sind Sie selbst denn nicht neugierig, den leichtsinnigen Menschen kennen zu lernen?« fragte ich darauf mit einem heimlichen Seitenblick auf die junge Reiterin, die mit bezaubernder mädchenhafter Schüchternheit zu mir herüberschaute.

»Meines Onkels wegen bin ich allerdings sehr neugierig, aber auch für mich bin ich auf sein erstes Erscheinen gespannt, und ich muß es wohl sein, indem kein Tag vergebt, an welchem der Onkel oder die Tante nicht von dem Herrn Gustav sprechen. Er ist wohl sehr groß?«

»Beinah so groß, wie der Herr Oberstlieutenant.«

»Ich glaube verstanden zu haben, daß Sie meinen Onkel nicht kennen?«

»Persönlich nicht«, entgegnete ich, meine Unbedachtsamkeit wieder verbessernd, »aber ich habe die beiden Herren mehrfach in den Straßen Bonn's neben einander gesehen.«

Eine kurze Strecke legten wir jetzt auf dem stark ansteigenden Wege schweigend zurück. Der Führer trieb seinen Esel mit Worten und einzelnen wohlgemeinten Schlägen an; meine Gefährtin betrachtete sinnend die struppige Mähne und die langen beweglichen Ohren des geduldigen Thiers, und ich weidete mich wieder an dem Anblick ihrer schlanken jungfräulichen Gestalt, die so anmuthig und geschmeidig allen Bewegungen des Reitthiers nachgab.

Sie hatte mir ihr edel geschnittenes Profil zugekehrt; die langen Wimpern ruhten über den gesenkten Augen beinah auf den rosigen Wangen, und ihre rabenschwarzen Locken, welche tief auf ihren Busen hinabfielen, verlängerten und verkürzten sich[535] bei jedem Schritt, als hätten sie spielend ihre Federkraft versuchen und es sich gegenseitig zuvorthun wollen.

Lange noch hätte ich neben ihr herschreiten können, ohne die Stockung in unserm Gespräch zu empfinden; ich hatte nur Gedanken für das liebliche Bild, welches sie mir bot, und mit einem Gemisch von Entzücken und Bedauern über meine Hinterlist, vergegenwärtigte ich mir ihr verlegenes Erstaunen, wenn ich sie plötzlich als eine liebe Bekannte vertraulich begrüßen würde.

Nach einer Weile hob sie ihr Haupt wieder empor. »Ist der Herr Wandel eine stattliche Erscheinung?« fragte sie naiv, mich mit ihren großen blauen Augen so recht offen und redlich anblickend.

»Im Gegentheil, er ist außerordentlich häßlich,« entgegnete ich, wiederum gegen ein krampfhaftes Lachen ankämpfend.

»Sie scheinen es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, Alles, was mein Onkel sagt, zu bestreiten,« versetzte sie, durch meine Antwort offenbar unangenehm überrascht.

»Mein Fräulein, verzeihen Sie mir, ich befinde mich aber in der Lage, wiederholen zu müssen: Gustav Wandel ist schauderhaft häßlich.«

»Sie halten ihn vielleicht dafür, weil Ihr Geschmack ein – ein – «

»Ein verdorbener ist?« schaltete ich ein.

»Das wollte ich gerade nicht sagen, sondern daß er von dem meines Onkels so sehr abweicht; übrigens soll es mich nicht kümmern, ob Herr Wandel schön oder häßlich ist, ich wünschte nur zu wissen, wie er aussieht, um ihn, wenn er plötzlich einmal auf der Oberförstern eintrifft, zu erkennen und meinem Onkel zurufen zu können: Da ist endlich der lang erwartete Herr Wandel!«

»Ah, das ist etwas Anderes, und mache ich mir daher ein Vergnügen daraus. Ihnen den leichtsinnigen Patron so genau zu beschreiben, daß Sie gar nicht irren können. Also zuerst ist er hoch und kräftig gewachsen, ungefähr so, wie ich; ferner trägt er eben solche lange braune Mähnen wie ich, und eine ähnliche Gesichtsverzierung, wie ich mir erlaubt habe, um meine eigenen Lippen anzulegen. Dann erfreut er sich großer blauer Augen, ebenfalls wie die meinigen, nur daß er für gewöhnlich etwas unverschämter in die Welt hineinschaut, als ich es jetzt thue; genug, mein Fräulein, wir sehen einander sehr ähnlich – was Ihr Herr Onkel ohne Zweifel bezeugen wird – so ähnlich, daß wir schon häufig verwechselt worden sind, und deshalb wiederhole ich noch einmal, Gustav Wandel ist schrecklich häßlich.«

So lange ich sprach, hafteten meiner Gefährtin Blicke jedesmal mit sichtbarem Interesse an dem Theil meines Gesichtes, den ich gerade bezeichnete, und als ich geendigt, rief sie lächelnd aus:

»O, dann kann er doch nicht so –« darauf aber verlegen abbrechend, schaute sie nach der andern Seite hinüber, wo sich eben eine wunderbar schöne Aussicht über das Rheinthal eröffnete.

Wiederum stand ich auf dem Punkt, ihre Hand zu ergreifen, mich als den Mündel Ihres Onkels vorzustellen und ihr mit innigen Worten für ihre freundliche Gesinnung zu danken, und wiederum gewannen meine jugendliche Eitelkeit und der Wunsch,[536] meine seltsame Rolle mit Glanz bis zu Ende durchzuführen, die Oberhand über das Mitleid, welches mir ihre sie so reizend kleidende Verlegenheit einflößte. Doch gab ich dem Gefühl der plötzlich erwachenden Theilnahme in so weit nach, daß ich mich anstellte, als habe ich ihr Erschrecken über die ihr bereits zur Hälfte entschlüpfte Aeußerung nicht bemerkt, und den Führer auffordernd, halten zu bleiben, lenkte ich ihre Aufmerksamkeit auf das sich vor uns ausdehnende prachtvolle Panorama hin.

»Das ist Bonn,« begann ich, auf die ferne Stadt hinweisend, »und die fünf zusammenstehenden Thürme bezeichnen, weithin erkennbar, die stattliche Münsterkirche. Die Sage geht, daß sie auf Wasser gebaut sei; man soll in ihrem untersten Geschoß das Wasser sogar lauschen hören, wovon ich mich indessen noch nicht überzeugt habe. Verfolgen Sie nun mit den Blicken die Chaussee, so gelangen Sie zuerst an das Hochkreuz – «

»Die Herrschaften können das von oben weit besser sehen,« bemerkte hier der Führer, indem er sich wieder hinter sein Thier stellte.

Die junge Reiterin nickte zustimmend, und da mein Zweck, ihre Verlegenheit zu verscheuchen, erreicht war, so hatte ich durchaus keinen Grund, irgend welche Einwendungen zu erheben.

Als wir uns dann dem Gipfel des Berges wieder zuwendeten, nahm die schöne, wohl erhaltene Ruine unsere ungetheilte Aufmerksamkeit in Anspruch, und nachdem ich einige kurze Bemerkungen über deren Anlage und Architektur voraufgesendet, begann ich, die im Munde des Volkes noch immer frisch und klar fortlebende Sage über die Ritter von Godesberg zu erzählen.

Meine Gefährtin hörte mir gespannt zu, ihre Blicke hielt sie dabei beständig auf den grauen, ehrwürdigen Thurm und dessen mehr zerfallene Umgebung gerichtet. Aus ihren milden Augen leuchtete eine sanfte Schwärmerei, und es war nicht schwer zu errathen, daß sie sich, Angesichts der noch immer stolzen Trümmer des Alterthums, und angeregt durch meine Erzählung, im Geist in jene Zeiten zurückversetzte, in welchen von einer derartigen Burg aus eine drückende Herrschaft über das ganze Land ringsum ausgeübt werden konnte. Auch ich gelangte allmälig unter den Einfluß solcher Betrachtungen, der sich dann wieder in der enthusiastischen Wärme meines Vortrages äußerte.

Der Berg war noch vereinsamt; die gewöhnlichen Sonntage-Nachmittags-Gäste hatten sich noch nicht eingestellt. Ein warmer, fast drückender Sonnenschein lagerte auf der weiten, reich gesegneten Landschaft; kein Lüftchen rührte sich, und während nahe dem Erdboden zwischen Brombeerranken und Mauertrümmern der Zaunkönig lustig zirpend umherschlüpfte, beschrieben hoch oben die Schwalben ihre tausendfältig verschlungenen Linien, und jubelten die Lerchen ihre süßen, heiteren Triller in die stille, gleichsam feiernde Atmosphäre hinaus.

Ich hatte meine Blicke der äußersten Zinne des mächtigen Wartthurmes zugewendet. Zwei Krähen flogen daselbst mit schwerfälligen Bewegungen vorüber; kaum befanden sich dieselben aber in gleicher Linie mit dem alten Gemäuer, da verließen mehrere[537] leicht beschwingte Falken ihre zwischen den morschen Wänden versteckten Horste. In kurzen Kreisen emporschnellend schossen sie mit schrillem Ruf auf die verdrießlich krächzenden Wanderer nieder, als ob sie dieselben hätten im heftigen Anprall auf die Erde hinabstoßen wollen, im nächsten Augenblick wieder zum erneuerten Angriff emporsausend.

»Blicken Sie hinauf,« fuhr ich, in meiner Erzählung auf die eben beobachtete Thierscene übergehend, fort; »dort haben Sie ein Bild, welches an die alten Feudalzeiten, an daß Faustrecht erinnert. Die armen Krähen hegten gewiß nichts weniger, als feindliche Gefühle gegen die Falken; sie zogen vorüber, weil es ihr nächster Weg war, und dennoch können die besser bewaffneten und gewandteren Räuber es sich nicht versagen, wenn auch nur, um ihnen ihre Ueberlegenheit zu beweisen, sie mit hinterlistigen Angriffen zu verfolgen.«

Der Führer hielt das Thier jetzt wieder an.

»Wenn es den Herrschaften beliebt, können sie auf dem Fußpfade nach der Ruine hinauf steigen, es sind nur wenig Schritte bis dahin, ich werde mit dem Esel etwas später dort oben eintreffen,« sagte er, auf einen schmalen Seitenpfad deutend, der, wie ich bemerkte, steil, aber gerade nach dem alten Schloßhof hinaufführte.

Wir befanden uns vor der äußersten Ringmauer der Burg, deren vereinzelte Thürmchen malerisch zu der in dem einen Winkel errichteten kleinen Kapelle contrastirten. Träumerisch ließ meine Gefährtin ihre Blicke über die mit wildwachsenden Bäumen und einigen dorthin verpflanzten italienischen Pappeln anmuthig geschmückten umfangreichen Ruinen hinschweifen. Eine feierliche Stille ruhte auf dem ganzen Bilde; Gäste hatten sich noch nicht eingefunden, und erhielt der verwitternde, ehemalige Sitz stolzer, privilegirter Wegelagerer durch den Mangel jeglichen an die Jetztzeit erinnernden Geräusches den Charakter einer überaus melancholischen, dabei aber verlockenden Einsamkeit.

Ich glaubte in den Augen des jungen Mädchens zu lesen, daß ihr Gemüth vorzugsweise empfänglich für ungewöhnliche, an's Romantische streifende Eindrücke sei, und namentlich aber, wenn durch äußere Beeinflussung darauf hingelenkt, zur Schwärmerei hinneige. Sie bekundete dies auch, indem sie, wie aus einem Traume, plötzlich leicht emporschreckte und mich fragend ansah.

»Der Mann hat recht,« antwortete ich auf die stumme Frage, »es ist eine kurze Strecke bis dort hinauf, und wenn Sie sich meiner Führung anvertrauen wollten, würden nicht nur Sie einen besonders schönen Anblick der Burg gewinnen, sondern auch ich dürfte hoffen, von Ihrem Herrn Onkel für meine Dienste als Führer belobt zu werden.«

Die wohlberechnete Erwähnung des Oberstlieutenants verfehlte ihre Wirkung nicht; der Ausdruck von Schüchternheit wich aus ihren freundlichen Zügen, und sich mit der einen Hand auf des neben sie hintretenden Mannes Schulter stützend, die andere dagegen mir reichend, sprang sie gewandt aus dem stuhlartigen Sattel zur Erde.

»Furchtlos vertraue ich mich dem besten und ältesten Freunde des Herrn Gustav an,« sagte sie[538] lächelnd, »und ich hoffe, daß er mich mit seinem Leben gegen die uns etwa den Weg vertretenden ruhelosen Burggeister vertheidigen und wohlbehalten zu mei nem Onkel zurückbringen wird.«

»Mit meinem Leben, und wenn ich deren tausend besäße,« antwortete ich begeistert und wahrhaft beglückt, daß der unbekannte Gustav wenigstens keine unbedeutende Rolle in ihren Gedanken spielte; »ja, und besäße ich deren zehntausend,« wiederholte ich, »ich würde sie mit Freuden opfern, wenn auch nur, damit der leichtsinnige Gustav, der mehr Glück hat, als er verdient, Ehre mit mir einlegt. Uebrigens sollen die Burggeister doch auch mit der Zeit fortgeschritten sein und sich den Sterblichen nicht mehr so feindlich gesinnt zeigen, wie ehemals.«

»Wenn die Burggeister auch verschwunden sind, so leben sie doch in den Sagen fort,« entgegnete meine Begleiterin, »und unwillkürlich ruft man sich in's Gedächtnis daß zwischen den zerfallenden Mauern frohe Menschen sich einst heimisch und behaglich fühlten, und wenig daran dachten, daß nach einigen Jahrhunderten ihr Leben und Wirken in das Gewand der Sage gekleidet werden würde.«

»Es läßt sich nicht leugnen,« versetzte ich, »daß die alten Sagen viel dazu beitragen, die zerfallenden Bauwerke des Mittelalters mit einem eigenthümlichen, geheimnißvollen Schimmer zu umgeben, die Phantasie des Wanderers und Beschauers dagegen zu den bizarrsten Zusammenstellungen anzuregen. Aber gerade darin liegt auch wieder ein hoher Reiz, und ich bilde mir ein, daß die schönen Balladen, welche uns das Alterthum gleichsam verbildlichen, eben nur zwischen solchen Trümmerhaufen, oder doch unmittelbar nach einem Besuch derselben, entstanden sein können.«

Der Eseltreiber war um diese Zeit bereits aus unserm Gesichtskreis entschwunden, nur noch gedämpft drang der klappernde Hufschlag seines Thiers zu uns herüber. Durch eine Oeffnung in der Mauer waren wir in den äußersten Schloßhof getreten und langsam wanden wir uns auf einem grünen Abhange nach der Ruine hinauf.

Mir selbst war diese Wanderung ein doppelter Genuß, und so sehr hatte ich mich den Betrachtungen über den Ideengang meiner lieblichen Gefährtin hingegeben, daß ich der mir von einem neckischen Zufall an die Hand gegebenen Rolle kaum noch gedachte, und mich bestrebte, ihrer offenbar in der grauen Vorzeit umherirrenden Phantasie immer neue Nahrung zu bieten.

»Und dennoch sind die Sagen und die sich an dieselben knüpfenden Erinnerungen nur ein geringer Ersatz für das heimliche Grauen, welches man früher empfand, wenn man sich einer, nach damaligen Begriffen, von Gespenstern heimgesuchten Stelle näherte,« warf ich ein, indem ich auf eine Thoröffnung in der sich vor uns erhebenden hohen Giebelmauer zu lenkte. Wie ganz anders wäre es zum Beispiel, träte uns aus diesem Gemäuer ein steinerner Gast entgegen, mit der Frage: »Wer wagt es mein stilles Reich zu entweihen und mich in meiner Ruhe zu stören?«

»Oder ein bleiches Burgfräulein im Weißen Gewände,« fügte das junge Mädchen mit schwärmerischem Ausdruck hinzu, »nein, lieber eine rosige Dame mit langer Sammetschleppe, den Falken auf der Hand und[539] zwei muntere Windspiele zur Seite, ja, das wären Gespenster, von denen ich die Burg belebt sehen möchte; aber es ist ja heller Tag, und die Burggeister verlassen, wie die Sage lehrt, nur um Mitternacht ihre längst überwucherten Ruhestätten.«

»O, es müßte ein Geist des niedersten Ranges sein, der nicht die Macht besäße, sich auch im Sonnenschein etwas ergehen zu können!« rief ich heiter aus, indem ich meiner Begleiterin den Vortritt in die erste, nur noch an den Mauerüberresten kenntliche Halle ließ.

Eine Antwort schwebte ihr auf den Lippen; plötzlich aber prallte sie erschreckt zurück, ihr Antlitz erbleichte, auf ihren Wangen erschienen wieder die beiden rothen Maale, und ihre Blicke starr auf einen mir noch nicht sichtbaren Punkt geheftet, flüsterte sie kaum vernehmbar: »Mein Gott, was ist das?«

Gleich darauf befand ich mich an ihrer Seite, und als ich nach der Ursache ihres Entsetzens umherspähte, gewahrte ich eine Persönlichkeit, die wohl geeignet war, ein leicht erregbares jugendliches Gemüth, namentlich nach der vorhergegangenen Unterhaltung, mit Schrecken zu erfüllen.

Im Schatten der Mauer und unter einer laubenartig niederhängenden Epheuverzweigung stand nämlich, als wenn sie sich eben erhoben hätte, eine weibliche Gestalt, die für mich, der ich sie bereits seit vielen Jahren kannte, zwar nichts Befremdendes hatte, durch ihren unerwarteten Anblick mich aber dennoch in nicht geringem Grade überraschte.

Dieselbe1 war hoch und kräftig gewachsen, sogar zur Corpulenz hinneigend; ihre breiten Gesichtszüge trugen den Ausdruck leichtfertiger Gutmüthigkeit und schienen aus einem freundlichen Lächeln gar nicht herauskommen zu können. Wenn man indessen tiefer in ihre graublauen Augen schaute, dann entdeckte man leicht ein unstetes Leuchten, welches auf eine Gestörtheit des Geistes hindeutete und zugleich ihren seltsamen Aufzug rechtfertigte.

Ihren von wirren, nur nothdürftig aufgesteckten Haaren umgebenen Kopf bedeckte ein großes grünes Barett, wie man solche häufig auf Bildern den Knappen und Rittern beigegeben findet. Ein grellfarbiges Tuch schlang sich um ihren Hals, ein dunkeles Kleid von leichtem Stoff verhüllte, ziemlich unordentlich angelegt, ihren Körper, doch hatte sie den Rock des selben festonartig so aufgenommen, daß ein dunkelblaues Unterkleid sichtbar blieb, auf dessen unterem Rande mit weißen Fäden ein breiter Besatz höchst kunstvoll[540] eingestickt war. Die Stickerei bestand aus einer fortlaufenden Reihe großer Figuren und Gruppen, und man brauchte nur einen Blick auf dieselben zu werfen, um sich zu überzeugen, daß sie, aus einer krankhaften Phantasie hervorgegangen, von der Eigentümerin selbst sehr sorgfältig ausgenäht worden waren. An ihrer Seite hing eine große Tasche, in welcher sie die ihr unentbehrlich erscheinenden Gegenstände mit sich führte, während sie einen kleinen Arbeitsbeutel an ihren Gürtel befestigt hatte. Ihre Bekleidung, überhaupt ihr ganzes Aeußere trug reichliche Spuren ihres unsteten Wanderlebens und ihrer Vorliebe für den Aufenthalt im Freien, und beim Hinblick auf den Figurenkreis und den altmodischen Kopfputz konnte man nicht umhin, sie in Gedanken mit den Beschreibungen längstverschollener Wahrsagerinnen oder Zauberinnen zu vergleichen.

So stand sie denn vor uns; ein gutmüthiges Lächeln schwebte auf ihren alternden Zügen, und weder in Miene noch Haltung äußerte sie Ueberraschung oder Mißmuth über unsere Störung. Und gestört hatten wir sie, das bewiesen die noch mit Dinte befeuchtete Feder und ein zur Hälfte beschriebenes Blatt Papier in der einen Hand, und ein Dintenfläschchen in der an dern, welches sie im Begriff stand, zuzukorken.

»Ah, Fräulein Brüsselbach,« rief ich mit zutraulicher Freundlichkeit aus, denn ich glaubte dadurch am schnellsten den beängstigenden Eindruck zu verscheuchen, welchen der unvermuthete Anblick einer Geisteskranken auf meine Gefährtin ausübte, »wie geht es Ihnen und was verschafft mir die Ehre, mit Ihnen zwischen den Ruinen des Godesberg zusammenzutreffen?«

Die Angeredete verpackte mit unerschütterlicher Ruhe ihr Dintenfläschchen, und dann zuerst mich und demnächst das junge Mädchen flüchtig betrachtend, schritt sie uns langsam entgegen.

»Excellenz belieben zu scherzen, indem Sie sich nach dem Befinden Ihrer gehorsamen Dienerin erkundigen,« begann sie mit ihrem tiefen, aber nicht unangenehm klingenden Organ, »ich erlaubte mir, wie Sie, die Gräber Ihrer Vorfahren zu besuchen und der Zeiten zu gedenken, in welchen in diesen Hallen die edlen Ritter die edlen Fräulein zum Tanze führten.«

»Entfernen wir uns, ich fürchte mich,« flüsterte meine bebende Gefährtin, dichter zu mir herantretend.

»Fürchten Sie sich nicht, gnädigste Comtesse,« versetzte Fräulein Brüsselbach, eh' ich irgend etwas zur Beruhigung des jungen Mädchens erwidern konnte; »die Mauern stehen noch fest, und die Verstorbenen verlassen ihre Gräber nicht wieder. Wenn Sie aber die Liebe fürchten und ihr auszuweichen wünschen, so hilft alle Vorsicht Ihnen nicht. Sie kommt, wo und wann es ihr gefällt, gleichviel, ob im Palast, in der Hütte des Armen oder zwischen den Ruinen von Godesberg.«

»An wen haben Sie geschrieben?« fragte ich, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben.

»An wen ich schrieb, Ihro Gnaden?« fragte Fräulein Brüsselbach, die Augen verschämt niederschlagend, zurück, »der Herr Graf und auch die gnädigste Comtesse sollten doch wohl zu wissen geruhen,[541] daß meine Briefe an denjenigen gerichtet sind, dem das Geschick sie in die Hände spielt.«

»So lassen Sie mich durch Zufall den Empfänger Ihres Schreibens werden,« versetzte ich, die Hand nach dem Papier ausstreckend.

»Nichts in der Welt ist Zufall, Herr Graf,« antwortete Fräulein Brüsselbach mit derselben Verschämtheit, während sie das Papier in Briefform zusammenfaltete, »oder wollen Ew. Excellenz es etwa dem Zufall verdanken, daß Sie sich augenblicklich in der Gesellschaft des edlen Fräuleins an dieser geweihten Stätte befinden? Indem ich diesen Brief schrieb, folgte ich einer Bestimmung des Schicksals; eine ähnliche Bestimmmig führte Ihro Gnaden hierher, und derselben Bestimmung folgend, habe ich die Ehre, Ihnen, Herr Graf, mein unterthänigstes Schreiben zu Füßen zu legen.«

Mit diesen Worten und einer etwas linkischen Verbeugung überreichte sie mir den Brief, und wiederum flogen ihre gutmüthig verschmitzten Blicke prüfend zwischen meiner Begleiterin und mir hin und her.

Die vertrauliche Weise, in welcher ich zu der armen Geisteskranken sprach, war in der That nicht ohne die beabsichtigte Wirkung auf meine Gefährtin geblieben. Die Furcht war von ihr gewichen; dagegen betrachtete sie die ihr fremde und geheimnißvolle Erscheinung mit einem Gemisch von Scheu und Theilnahme, doch bemerkte ich, daß ihre Blicke, sobald ich mit einem schwülstigen Titel angeredet wurde, mich jedesmal mit dem Ausdruck neugieriger Verlegenheit flüchtig streiften.

Ihre Phantasie war unstreitig durch das merkwürdige Zusammentreffen mächtig aufgeregt worden und unbewußt bestrebte sie sich, die Worte der Wahnsinnigen, denselben gleichsam einen höhern Werth beilegend, zu deuten. Letzteres geschah ganz gegen meine Wünsche und Berechnung, weshalb ich, um einen derartigen nachteiligen Einfluß abzuschwächen, dem Gespräch eine scherzhafte Wendung zu geben suchte.

»Muß ich den Brief in gleicher Weise beantworten?« fragte ich lachend, das Papier entfaltend.

»Handeln der gnädige Herr, wie das Geschick es Ihnen befehlen wird; aber lesen Ihro Gnaden meine Worte nicht hier,« entgegnete Fräulein Brüsselbach mit einer abwehrenden Bewegung, »schreiben Sie und lassen Sie Ihre Antwort demjenigen zugehen, den das Geschick Ihro Gnaden im entscheidenden Augenblick zuführen wird, und irre ich nicht, so wird der Empfänger Ihre Frau Gemahlin sein.« So sprechend, deutete sie freundlich auf meine Begleiterin.

Ich erschrak, doch beruhigte ich mich schnell wieder, als ich bemerkte, daß das junge Mädchen, weit entfernt davon, in Verlegenheit zu gerathen, lächelnd die mädchenhafte Scheu überwand und sich anschickte, selbst zu antworten.

»Sie irren,« sagte sie unbefangen, obwohl ihre Wangen sich etwas höher färbten, »der Zufall hat uns vor einer Stunde erst zusammengeführt« –

»In den Augen liegt das Herz,« unterbrach Fräulein Brüsselbach sie schnell, sie wohlgefällig und sogar theilnahmvoll betrachtend, »und glauben Sie mir, mein gnädigstes Fräulein, wenn das Geschick es ernstlich bestimmt hat, dann wird selbst das Unmögliche[542] zur Wahrheit. Sie nennen es Zufall, was Sie mit dem Herrn Grafen zusammenführte, ich erkenne darin eine höhere Fügung; es leuchtet aus Ihren Augen, ich lese es in seinen Blicken:


Die Tochter ihres Vaters,

Sie ahnte, wer er war,

Beseligt und beglückend

Folgt sie ihm zum Altar.«


Diese Verse, welche sie mit theatralischem Pathos hersagte, begleitete sie mit so bezeichnenden Bewegungen, daß kein Zweifel darüber obwalten konnte, wen sie eigentlich meine. Betrachtete ich nun dieselben auch als gehaltlose Ergüsse eines kranken Gemüthes, die sie an jeden ihr zufällig Begegnenden gerichtet haben würde, so war ich doch überrascht durch das Zusammentreffen von Umständen, die, unter sich fremd, dennoch in so naher Beziehung zu einander zu stehen schienen: Neben mir befand sich ein junges Mädchen, mit welchem ich voraussichtlich bereits in den nächsten Stunden in ein gewisses verwandtschaftliches Verhältniß treten sollte; sie war die Nichte meines mich in so hohem Grade liebenden Vormundes; ich sollte zeitweise mit ihr unter demselben Dache leben und täglich mit ihr verkehren; sie war mir erschienen wie ein holdes Traumgebilde; sie kannte mich nicht und dennoch sprach sie in einer Weise von mir, die darlegte, daß sie sich in Gedanken viel mit mir beschäftigte, und nun trat noch die Irrsinnige mit ihrer Weissagung vor mich hin. Kein Wunder also, daß ich, der ich in jugendlichem Uebermuthe nur zu gern romantischen Ideen huldigte, hier mehr, als einen alltäglichen Zufall zu entdecken suchte und mit Entzücken der Möglichkeit, ja noch mehr, der Wahrscheinlichkeit gedachte, das liebe Engelsbild an mei ner Seite dereinst die Meinige nennen zu dürfen.

Blitzschnell folgten alle diese Gedanken auf einander und ebenso schnell bildete sich auch der für meine Jahre gewiß natürliche Wunsch, von der armen überspannten Person noch mehr zu vernehmen, was in Beziehung zu meiner Zukunft gebracht werden könne.

Zu meiner Gefährtin wagte ich kaum aufzublicken; ich hegte die unbestimmte Furcht, von ihr errathen zu werden. Zu dergleichen Besorgnissen war indessen am allerwenigsten ein Grund vorhanden; denn Gedanken, wie sie mich erfüllten, lagen dem kindlich unschuldigen Gemüthe unerreichbar fern, und zeugte auch die scharf begrenzte, tiefe, aber schnell wieder schwindende Nöthe auf ihren zarten Wangen abermals von einer innern Erregung, so war diese doch nur eine Folge der Befremdung über das seltsame Benehmen der Wahnsinnigen.

»Fräulein Brüsselbach, Sie dichten ja ausnehmend schon,« brach ich endlich wieder das Schweigen. »Nehmen der Herr Graf dies nicht so leicht,« erhielt ich zur Antwort; »ich spreche und schreibe nur, was ich empfinde. Ich habe bittere Erfahrungen gemacht; die Liebe ist wie eine glatte Eisfläche, und wenn Sie meine Verse verachten, so will ich Ihnen noch einmal mit klaren Worten wiederholen: das Bild der Tochter Ihres Vaters, mein gnädiges Fräulein, wird sich dem Herzen des Herrn Grafen mit unauslöschlichen Zügen einprägen und viel Kummer und Schmerz, aber auch endlose Seligkeit für Sie Beide daraus hervorgehen.«[543]

»Wenn doch der Führer erschiene,« flüsterte meine Begleiterin mir jetzt wieder mit wachsender Besorgniß zu.

»Er muß gleich eintreffen,« erwiderte ich beruhigend, und dann haben wir ja auch die Räumlichkeiten der Ruine noch nicht in Augenschein genommen.

»Die arme Frau, wollen Sie ihr nicht etwas schenken? ich habe kein Geld bei mir,« sagte sie gleich darauf mit bezaubernder Verlegenheit.

Ich zog die Börse und reichte Fräulein Brüsselbach ein Geldstück. »Im Auftrage der jungen Dame,« sagte ich, ihr dasselbe in die Tasche schiebend, denn ich wußte aus Erfahrung, daß sie zuweilen derartige Gaben stolz zurückwies.

Sie dankte nicht, betrachtete meine Gefährtin aber noch einmal freundlich und wohlwollend, und dann ein zerknittertes Sträußchen aus derselben Tasche hervorsuchend, bot sie ihr die welken Blumen dar. »Es sind Vergißmeinnicht, mein edles Fräulein,« sagte sie ausdrucksvoll; »vergessen Sie nicht den Godesberg, und möge die Tochter Ihres Vaters glücklich mit ihm sein.«

Darauf wendete sie sich ohne weitern Gruß ab, und eine melancholische Melodie vor sich hinsummend, schritt Sie durch die Maueröffnung davon.

Meine Begleiterin seufzte tief auf. »Die arme Frau,« begann sie, indem sie die in ihrer Hand befindlichen Blumen sinnend betrachtete, »ich fürchtete mich vor ihr, und doch scheint das bemitleidenswerthe Geschöpf viel Gutmüthigkeit zu besitzen.«

»Sehr viel Gutmüthigkeit,« entgegnete ich, die Richtung nach dem innern Schloßhofe einschlagend; wo ich den bereits eingetroffenen Führer zu seinem Thier sprechen hörte; »ich kenne sie schon seit Jahren und scheint es mir, als ob sie sich in dem langen Zeitraum auch nicht im Geringsten verändert habe.«

»Besitzt sie denn gar keine Heimath?«

»Sie will keine haben; sie ist am glücklichsten, wenn sie frei umherstreifen und ungestört ihren verworrenen Träumen nachhängen kann. Am liebsten denkt sie sich in die Rolle eines Ritterfräuleins oder einer Hofdame hinein und gefällt sich darin, je nach ihrer augenblicklichen Neigung, den Einen oder den Andern als eine hochgestellte Persönlichkeit zu begrüßen.«

»Dann sind auch Sie wohl kein Graf und keine Excellenz?« fragte das liebe Mädchen mit einem Lächeln, welches mir bis zum Heizen drang.

»Weder Graf, noch Excellenz,« antwortete ich heiter, durch die Frage daran erinnert, daß ich vorläufig noch der Freund des Herrn Gustav sei, »Fräulein Brüsselbach hat mich zu solchen Würden erhoben, gerade wie außer mir noch viele Andere, und da sie so eigensinnig bei diesen Bezeichnungen beharrt, würde es vergebliche Mühe sein, sie über ihren Irrthum aufklären zu wollen.«

»Tritt sie auch als Wahrsagerin auf? ihre äußere Erscheinung ist wenigstens die einer solchen.«

»Eigentlich nicht, doch glaubt sie zuweilen in der Zukunft lesen zu können, und ungern giebt sie in solchen Fällen die einmal gefaßte Idee auf.«

Unter solchen Gesprächen waren wir über den alten Burghof und demnächst um die ganze Ruine herumgegangen. Das verwitterte Gestein erregte wohl unsere Aufmerksamkeit und wir sprachen auch in warmen[544] Worten unsere Bewunderung über die Lage der Ruine und die festen Mauerwerk aus, welche dem zerstörenden Einfluß der Jahrhunderte auch ohne die schützende Hand des Menschen getrotzt hatten, aber immer wieder kam meine Gefährtin auf die Irrsinnige zurück, worin sie natürlich meinen Gedanken, die sich fast unablässig mit der mir so viel Glück verheißenden Prophezeihung beschäftigten, stets begegnete.

»Ein eigenthümlicher Vers war es, den sie hersagte,« begann sie wieder, als wir uns nach Besichtigung der Burg dem Schloßhofe, wo der Führer unser harrte, wieder zuwendeten, »ob sie ihn selbst gelichtet haben mag?«

»Ohne Zweifel, denn schon früher hatte ich Gelegenheit, Gedichte von ihr zu hören und zu lesen. Dieselben bestehen gewöhnlich aus einer verwirrten Anhäufung von Gedanken, welche alten Ritter, Räuber-und Geistergeschichten entnommen sind. Ueberhaupt scheint eine übel gewählte Lectüre nicht wenig zu ihrer Ueberspanntheit beigetragen zu haben.«

»Ob sie wohl mit Vorbedacht die Prophezeiung in den Vers verwebt hat, um uns gegenüber als Wahrsagerin zu erscheinen?«

»Es sollte mich nicht Wundern, wäre es der letzte Vers, den sie heute gedichtet und hier niedergeschrieben hat,« antwortete ich, den Brief, den ich beinahe vergessen hatte, entfaltend, »nein, ich täusche mich nicht,« fuhr ich fort, als ich, einen Blick auf das Papier werfend, wirklich den Schlußvers wiedererkannte.

»O, lesen Sie,« versetzte meine Gefährtin hastig, und aus ihren schönen Augen sprach ein unvergleichliches Gemisch von kindlicher Neugierde und jungfräulicher Befangenheit.

Obwohl bereits auf dem Vorplatz vor dem großen Thurm und Angesichts des Führers, befanden wir uns doch weit genug von Letzterem entfernt, um nicht verstanden zu werden. Wir setzten uns daher im Schatten eines uralten Holunders, unter welchem eine einfache Bank angebracht worden war, nieder, und nachdem ich die nicht allzudeutliche Schrift vorher mit den Blicken durchflogen, las ich dieselbe laut vor:


»Sie sah den stolzen Ritter,

Im stählernen Gewand,

Er grüßte sie so freundlich

Und reichte ihr die Hand.

Und als er ritt von dannen,

Da Lehnte sie ihn zurück,

Ihr Herz es war gebrochen,

Gebrochen ihr Lebensglück.

Drauf weinte sie heiße Thränen,

Der Thränen weinte sie viel,

Die wurden endlich zum Büchlein,

Das von den Bergen fiel.

Zum Bache kam der Ritter,

Er sah sein Spiegelbild.

Sein Spiegelbild in Thränen,

Mit Lanze, Schwert und Schild.

Schnell zäumt er auf den Renner,

Er reitet Tag und Nacht,

Und als er kam zu dem Hüttlein,

Da rief er: aufgemacht!

Ihr Vater hört das Klopfen,

Und greift zu seinem Speer

Und macht zum Kampf sich fertig,

Sich und die treue Wehr.

Die Tochter Ihres Vaters,

Sie ahnte wer es war,

Beseligt und beglückend

Folgt sie ihm zum Altar.«
[545]

»Welch wilde Phantasien,« sagte meine Gefährtin, als ich geendigt, »aber in der That, die letzten Strophen sind dieselben, mit welchen die Unglückliche uns begrüßte. Nur klingen sie aus Ihrem Munde natürlicher, während ich vorhin wirklich eine Wahrsagerin zu hören glaubte.«

Ich sprach mich in ähnlicher Weise aus, doch vermochte ich nicht, mich gänzlich von dem mir bereits liebgewordenen Gedanken, daß das Geschick mir durch die Irrsinnige seinen Beschluß habe kundthun wollen, loszusagen. Mit ganz anderen Augen und Gefühlen betrachtete ich daher jetzt die Nichte meines Vormundes, und nichts kommt der Sorgfalt gleich, mit welcher ich ihr wieder in den Sattel half und das Thier auf den besten Pfaden den Berg hinunterführte, dem Treiber es anheimstellend, nach Willkür seinen eigenen Weg zu wählen.

Meine Aufmerksamkeiten nahm sie als etwas Selbstverständliches hin. Es schien ihr sogar lieb zu sein, dadurch Gelegenheit zu finden, ihren Gedanken mehr nachhängen zu können; denn wenn die seltsame Weissagung meinen Geist noch immer ernsthaft beschäftigte und mich fast bereuen ließ, das nichts ahnende und zugleich vertrauensvolle herzige Wesen über meine Person getäuscht zu haben, so befand sie sich wieder unter dem Druck der durch meine Erzählungen muthwillig heraufbeschworenen phantastischen Bilder, welche zu verscheuchen sie sich vergeblich bemühte.

So verfolgten wir unfern Weg in das Thal hinab; die Blicke schweiften mechanisch in die Ferne, und nur gelegentlich, wie um den Schein eines drückenden Schweigens abzuwälzen, fielen kurze Bemerkungen über die schöne Naturumgebung und die größeren und kleineren heiteren Gesellschaften, welche uns nunmehr bald beritten, bald zu Fuße begegneten. Unsere Stimmung war seit einer Stunde vollständig umgewandelt worden; der Sonnenschein dagegen war, wenn die Schatten sich auch etwas verlängert hatten, derselbe geblieben; ebenso sangen und jubelten die Lerchen in ihrer alten Weise, und dazu erklang aus dem Dickicht hin und wieder der glockenreine Schlag einer Nachtigall.

Erst als wir in das Thal hinabgelangten, schien der Bann, der auf meiner anmuthigen Gefährtin lastete, wieder von ihr zu weichen und ihre erregte Phantasie sich zu beruhigen, während die Aussicht, nun bald meinem Vormunde gegenüber zu treten, meine buntschillernden Luftschlösser weit in den Hintergrund drängte und mich fast nur des allseitigen Erstaunens bei dem unerwarteten Zusammentreffen gedenken ließ.

Auf meiner Gefährtin Züge lehrte das sinnige Lächeln zurück; ich dagegen wählte den tollen Gustav Wandel sammt seinem ehrwürdigen Vormunde auf's Neue zum Gegenstand scherzhafter Bemerkungen, um dafür die süßesten Vorwürfe, mit welchen je ein Mensch überhäuft wurde, einzuernten. Und so vertieften wir uns denn allmälig wieder so sehr in eine heitere Unterhaltung, daß es uns förmlich überraschte, die Mineralquelle plötzlich vor uns zu sehen.

Fußnoten

1 Der hier geschilderten Person erinnere ich mich sehr wohl. Sie war in ihren jüngeren Jahren Kammerjungfer in einem gräflichen Hause gewesen und, nach ihren Aeußerungen zu schließen, hatte unglückliche Liebe ihren Geist unheilbar zerrüttet. Sie war vollständig harmlos, wanderte in der Umgebung Bonn's von Dorf zu Dorf, hier auf einem Bauerhofe den Mägden helfend, dort die ihr übertragenen feinen Handarbeiten sauber und gewissenhaft vollendend. Ueberall erhielt sie Speise, Trank und Obdach, doch brachte sie die Nächte, wenn das Wetter es gestattete, am liebsten unter grünen Bäumen zu; nirgends weilte sie indessen länger, als höchstens vierzehn Tage. Wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder geheimnißvoll und ohne Abschied zu nehmen, in vielen Fällen aber einen in den schwülstigsten Ausdrücken verfaßten Brief hinterlassend. Manche Bewohner dortiger Gegend werden sich, gleich mir, jener seltsamen Erscheinung erinnern. Daß sie jetzt noch lebt, ist kaum anzunehmen, indem sie ein Alter von wenigstens achtzig Jahren erreicht haben mußte. Der Vers.


Quelle:
Balduin Möllhausen: Die Mandanenwaise. In: Deutsche Roman-Zeitung, 2. Jg., Band 2, Berlin 1865, S. 546.
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