Ach nur einmal noch im Leben!

[806] Im Fenster jenes alt verblichnen Gartensaals

Die Harfe, die, vom leisen Windhauch angeregt,

Lang ausgezogne Töne traurig wechseln läßt

In ungepflegter Spätherbst-Blumen-Einsamkeit,

Ist schön zu hören einen langen Nachmittag.

Nicht völlig unwert ihrer holden Nachbarschaft

Stöhnt auf dem grauen Zwingerturm die Fahne dort,

Wenn stürmischer oft die Wolken ziehen überhin.


In meinem Garten aber (hieß' er nur noch mein!)

Ging so ein Hinterpförtchen frei ins Feld hinaus,

Abseits vom Dorf. Wie manches liebe Mal stieß ich

Den Riegel auf an der geschwärzten Gattertür

Und bog das überhängende Gesträuch zurück,

Indem sie sich auf rostgen Angeln schwer gedreht! –

Die Tür nun, musikalisch mannigfach begabt,

Für ihre Jahre noch ein ganz annehmlicher

Sopran (wenn sie nicht eben wetterlaunisch war),

Verriet mir eines Tages – plötzlich, wie es schien,

Erweckt aus einer lieblichen Erinnerung –

Ein schöneres Empfinden, höhere Fähigkeit.[806]

Ich öffne sie gewohnter Weise, da beginnt

Sie zärtlich eine Arie, die mein Ohr sogleich

Bekannt ansprach. Wie? rief ich staunend: träum ich denn?

War das nicht »Ach nur einmal noch im Leben« ganz?

Aus Titus, wenn mir recht ist? – Alsbald ließ ich sie

Die Stelle wiederholen; und ich irrte nicht!

Denn langsamer, bestimmter, seelenvoller nun

Da capo sang die Alte: »Ach nur einmal noch!«

Die fünf, sechs ersten Noten nämlich, weiter kaum,

Hingegen war auch dieser Anfang tadellos.

– Und was, frug ich nach einer kurzen Stille sie,

Was denn noch einmal? Sprich, woher, Elegische,

Hast du das Lied? Ging etwa denn zu deiner Zeit

(Die neunziger Jahre meint ich) hier ein schönes Kind,

Des Pfarrers Enkeltochter, sittsam aus und ein,

Und hörtest du sie durch das offne Fenster oft

Am grünlackierten, goldbeblümten Pantalon

Hellstimmig singen? Des gestrengen Mütterchens

Gedenkst du auch, der Hausfrau, die so reinlich stets

Den Garten hielt, gleich wie sie selber war, wann sie

Nach schwülem Tag am Abend ihren Kohl begoß,

Derweil der Pfarrherr ein paar Freunden aus der Stadt,

Die eben weggegangen, das Geleite gab;

Er hatte sie bewirtet in der Laube dort,

Ein lieber Mann, redseliger Weitschweifigkeit.

Vorbei ist nun das alles und kehrt nimmer so!

Wir Jüngern heutzutage treiben's ungefähr

Zwar gleichermaßen, wackre Leute ebenfalls;

Doch besser dünkt ja allen was vergangen ist.

Es kommt die Zeit, da werden wir auch ferne weg–

Gezogen sein, den Garten lassend und das Haus.

Dann wünschest du nächst jenen Alten uns zurück,

Und schmückt vielleicht ein treues Herz vom Dorf einmal,

Mein denkend und der Meinen, im Vorübergehn

Dein morsches Holz mit hellem Ackerblumenkranz.
[807]

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 806-808.
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