An Clärchen

[802] Die Freundin immer neu zu schmücken,

Ich seh es wohl, ist deine Lust;

Darfst du ins Haar den Kranz ihr drücken,

Des eignen bist du kaum bewußt.


Und deinen Augen zu gefallen

Erlaubt sie gern das müßge Spiel.

Ach täglich mehr gefällt sie allen,

Die allen schon zu sehr gefiel!
[802]

Du machst sie, wie dir's auch gelungen,

Kaum lieblicher als je sie war,

Doch jede dieser Neuerungen

Bringt neue Sorge und Gefahr.


Heut ringeltest du Kinderlocken

Wie schön um Hals und Nacken ihr!

Ein Mädchen sieht das unerschrocken,

Allein bedenk, bedenke, wir!


Zwar muß vom Reiz ein Dichter leben,

Er heischt zurück was du versteckt,

Ihm bleibt der Pfeil ins Herz gegeben

Des Schönen, das ihn ewig neckt;


Nur höre auf, der Welt zu zeigen

Den Schatz, den sie uns schon mißgönnt!

Wer gern ein Kleinod hat zu eigen,

Es ist genug, daß er es kennt.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 802-803.
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