An Longus

[810] Von Widerwarten eine Sorte kennen wir

Genau und haben ärgerlich sie oft belacht,

Ja einen eignen Namen ihr erschufest du,

Und heute noch beneid ich dir den kühnen Fund.


Zur Kurzweil gestern in der alten Handelsstadt,

Die mich herbergend einen Tag langweilete,

Ging ich vor Tisch, der Schiffe Ankunft mit zu sehn,

Nach dem Kanal, wo im Getümmel und Geschrei

Von tausendhändig aufgeregter Packmannschaft,

Faßwälzender, um Kist und Ballen fluchender,

Der tätige Faktor sich zeigt und, Gaffens halb,

Der Straßenjunge, beide Händ im Latze, steht.

Doch auf dem reinen Quaderdamme ab und zu

Spaziert' ein Pärchen; dieses faßt' ich mir ins Aug.

Im grünen, goldbeknöpften Frack ein junger Herr

Mit einer hübschen Dame, modisch aufgepfauscht.

Schnurrbartsbewußtsein trug und hob den ganzen Mann

Und glattgespannter Hosen Sicherheitsgefühl,

Kurz, von dem Hütchen bis hinab zum kleinen Sporn

Belebet' ihn vollendete Persönlichkeit.

Sie aber lachte pünktlich jedem dürftgen Scherz.

Der treue Pudel, an des Herren Knie gelockt,

Wird, ihr zum Spaße, schmerzlich in das Ohr gekneipt,[810]

Bis er im hohen Fistelton gehorsam heult,

Zu Nachahmung ich weiß nicht welcher Sängerin.


Nun, dieser Liebenswerte, dächt ich, ist doch schon

Beinahe was mein Longus einen Sehrmann nennt;

Und auch die Dame war in hohem Grade sehr.

Doch nicht die affektierte Fratze, nicht allein

Den Gecken zeichnet dieses einzge Wort, vielmehr,

Was sich mit Selbstgefälligkeit Bedeutung gibt,

Amtliches Air, vornehm ablehnende Manier,

Dies und noch manches andere begreifet es.


Der Prinzipal vom Comptoir und der Kanzellei

Empfängt den Assistenten oder Kommis – denkt,

Er kam nach elfe gestern nacht zu Hause erst –

Den andern Tag mit einem langen Sehrgesicht.

Die Kammerzofe, die kokette Kellnerin,

Nachdem sie erst den Schäker kühn gemacht, tut bös,

Da er nun vom geraubten Kusse weitergeht:

»Ich muß recht, recht sehr bitten!« sagt sie wiederholt

Mit seriösem Nachdruck zum Verlegenen.


Die Tugend selber zeiget sich in Sehrheit gern.

O hättest du den jungen Geistlichen gesehn,

Dem ich nur neulich an der Kirchtür hospitiert!

Wie Milch und Blut ein Männchen, durchaus musterhaft;

Er wußt es auch; im wohlgezognen Backenbart,

Im blonden, war kein Härchen, wett ich, ungezählt.

Die Predigt roch mir seltsamlich nach Leier und Schwert,

Er kam nicht weg vom schönen Tod fürs Vaterland;

Ein paarmal gar riskiert' er liberal zu sein,

Höchst liberal – nun, halsgefährlich macht' er's nicht,

Doch wurden ihm die Ohren sichtlich warm dabei.

Zuletzt, herabgestiegen von der Kanzel, rauscht

Er strahlend, Kopf und Schultern wiegend, rasch vorbei

Dem duftgen Reihen tief bewegter Jungfräulein.

Und richtig macht er ihnen ein Sehrkompliment.


Besonders ist die Großmut ungemein sehrhaft.

Denn der Student, von edlem Burschentum erglüht,

Der hochgesinnte Leutnant, schreibet seinem Feind

(Ach eine Träne Juliens vermochte das!)[811]

Nach schon erklärtem Ehrenkampfe, schnell versöhnt,

Lakonisch schön ein Sehrbillett – es rührt ihn selbst.

So ein Herr X, so ein Herr Z, als Rezensent,

Ist großer Sehrmann, Sehr-Sehrmann, just wenn er dir

Den Lorbeer reicht, beinahe mehr noch als wenn er

Sein höhnisch Sic! und Sapienti sat! hintrumpft.


Hiernächst versteht sich allerdings, daß viele auch

Nur teilweis und gelegentlich Sehrleute sind.

So haben wir an manchem herzlich lieben Freund

Ein unzweideutig Äderchen der Art bemerkt,

Und freilich immer eine Faust im Sack gemacht.

Doch wenn es nun vollendet erst erscheint, es sei

Mann oder Weib, der Menschheit Afterbild – o wer,

Dem sich im Busen ein gesundes Herz bewegt,

Erträgt es wohl? wem krümmte sich im Innern nicht

Das Eingeweide? Gift und Operment ist mir's!

Denn wären sie nur lächerlich! sie sind zumeist

Verrucht, abscheulich, wenn du sie beim Licht besiehst.

Kein Mensch beleidigt wie der Sehrmann und verletzt

Empfindlicher; wär's auch nur durch die Art wie er

Dich im Gespräch am Rockknopf faßt. Du schnöde Brut!

Wo einer auftritt, jedes Edle ist sogleich

Gelähmt, vernichtet neben ihnen, nichts behält

Den eignen, unbedingten Wert. Geht dir einmal

Der Mund in seiner Gegenwart begeistert auf,

Um was es sei – der Mann besitzt ein bleiernes,

Grausames Schweigen; völlig bringt dich's auf den Hund.

– Was hieße gottlos, wenn es dies Geschlecht nicht ist?

Und nicht im Schlaf auch fiel es ihnen ein, daß sie

Mit Haut und Haar des Teufels sind. Ich scherze nicht.

Durch Buße kommt ein Arger wohl zum Himmelreich:

Doch kann der Sehrmann Buße tun? O nimmermehr!

Drum fürcht ich, wenn sein abgeschiedner Geist dereinst

Sich, frech genug, des Paradieses Pforte naht,

Der rosigen, wo, Wache haltend, hellgelockt

Ein Engel lehnet, hingesenkt ein träumend Ohr

Den ewgen Melodien, die im Innern sind:

Aufschaut der Wächter, misset ruhig die Gestalt

Von Kopf zu Fuß, die fragende, und schüttelt jetzt

Mit sanftem Ernst, mitleidig fast, das schöne Haupt,[812]

Links deutend, ungern, mit der Hand, abwärts den Pfad.

Befremdet, ja beleidigt stellt mein Mann sich an,

Und zaudert noch; doch da er sieht, hier sei es Ernst,

Schwenkt er in höchster Sehrheit trotziglich, getrost

Sich ab und schwänzelt ungesäumt der Hölle zu.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 810-813.
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