An eine Äolsharfe

[689] Tu semper urges flebilibus modis

Mysten ademptum: nec tibi Vespero

Surgente decedunt amores,

Nec rapidum fugiente Solem.

Hor.


Angelehnt an die Efeuwand

Dieser alten Terrasse,

Du, einer luftgebornen Muse

Geheimnisvolles Saitenspiel,

Fang an,

Fange wieder an

Deine melodische Klage!


Ihr kommet, Winde, fern herüber,

Ach, von des Knaben,

Der mir so lieb war,

Frisch grünendem Hügel.

Und Frühlingsblüten unterweges streifend,

Übersättigt mit Wohlgerüchen,

Wie süß bedrängt ihr dies Herz!

Und säuselt her in die Saiten,

Angezogen von wohllautender Wehmut,

Wachsend im Zug meiner Sehnsucht,

Und hinsterbend wieder.


Aber auf einmal,

Wie der Wind heftiger herstößt,

Ein holder Schrei der Harfe

Wiederholt, mir zu süßem Erschrecken,

Meiner Seele plötzliche Regung;[689]

Und hier – die volle Rose streut, geschüttelt,

All ihre Blätter vor meine Füße!


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 689-690.
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