Der Knabe und das Immlein

[671] Im Weinberg auf der Höhe

Ein Häuslein steht so windebang;

Hat weder Tür noch Fenster,

Die Weile wird ihm lang.


Und ist der Tag so schwüle,

Sind all verstummt die Vögelein,

Summt an der Sonnenblume

Ein Immlein ganz allein.


Mein Lieb hat einen Garten,

Da steht ein hübsches Immenhaus:

Kommst du daher geflogen?

Schickt sie dich nach mir aus?


»O nein, du feiner Knabe,

Es hieß mich niemand Boten gehn;

Dies Kind weiß nichts von Lieben,

Hat dich noch kaum gesehn.


Was wüßten auch die Mädchen,

Wenn sie kaum aus der Schule sind!

Dein herzallerliebstes Schätzchen

Ist noch ein Mutterkind.


Ich bring ihm Wachs und Honig;

Ade! – ich hab ein ganzes Pfund;

Wie wird das Schätzchen lachen,

Ihm wässert schon der Mund.«


Ach, wolltest du ihr sagen,

Ich wüßte, was viel süßer ist:

Nichts Lieblichers auf Erden

Als wenn man herzt und küßt!
[671]

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 671-672.
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