Erinnerung

[666] An C.N.


Jenes war zum letzten Male,

Daß ich mit dir ging, o Clärchen!

Ja, das war das letztemal,

Daß wir uns wie Kinder freuten.


Als wir eines Tages eilig

Durch die breiten, sonnenhellen,

Regnerischen Straßen, unter

Einem Schirm geborgen, liefen;

Beide heimlich eingeschlossen

Wie in einem Feenstübchen,

Endlich einmal Arm in Arme!


Wenig wagten wir zu reden,

Denn das Herz schlug zu gewaltig,

Beide merkten wir es schweigend,

Und ein jedes schob im stillen

Des Gesichtes glühnde Röte

Auf den Widerschein des Schirmes.


Ach, ein Engel warst du da!

Wie du auf den Boden immer

Blicktest, und die blonden Locken

Um den hellen Nacken fielen.


»Jetzt ist wohl ein Regenbogen

Hinter uns am Himmel«, sagt ich,[666]

»Und die Wachtel dort im Fenster,

Deucht mir, schlägt noch eins so froh!«


Und im Weitergehen dacht ich

Unsrer ersten Jugendspiele,

Dachte an dein heimatliches

Dorf und seine tausend Freuden.

– »Weißt du auch noch«, frug ich dich,

»Nachbar Büttnermeisters Höfchen,

Wo die großen Kufen lagen,

Drin wir sonntags nach Mittag uns

Immer häuslich niederließen,

Plauderten, Geschichten lasen,

Während drüben in der Kirche

Kinderlehre war – (ich höre

Heute noch den Ton der Orgel

Durch die Stille ringsumher):

Sage, lesen wir nicht einmal

Wieder wie zu jenen Zeiten

– Just nicht in der Kufe, mein ich –

Den beliebten ›Robinson‹?«


Und du lächeltest und bogest

Mit mir um die letzte Ecke.

Und ich bat dich um ein Röschen,

Das du an der Brust getragen,

Und mit scheuen Augen schnelle

Reichtest du mir's hin im Gehen:

Zitternd hob ich's an die Lippen,

Küßt es brünstig zwei- und dreimal;

Niemand konnte dessen spotten,

Keine Seele hat's gesehen,

Und du selber sahst es nicht.


An dem fremden Haus, wohin

Ich dich zu begleiten hatte,

Standen wir nun, weißt, ich drückte

Dir die Hand und –


Dieses war zum letzten Male,

Daß ich mit dir ging, o Clärchen![667]

Ja, das war das letztemal,

Daß wir uns wie Kinder freuten.


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 666-668.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1867)
Gedichte
Der Nacht ins Ohr. Gedichte von Eduard Mörike.Vertonungen von Hugo Wolf. Ein Lesebuch von Dietrich Fischer-Dieskau
Sämtliche Gedichte in einem Band
Die schönsten Gedichte (insel taschenbuch)
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon