Schön-Rohtraut

[701] Wie heißt König Ringangs Töchterlein?

Rohtraut, Schön-Rohtraut.

Was tut sie denn den ganzen Tag,

Da sie wohl nicht spinnen und nähen mag?

Tut fischen und jagen.

O daß ich doch ihr Jäger wär!

Fischen und jagen freute mich sehr.

– Schweig stille, mein Herze!


Und über eine kleine Weil,

Rohtraut, Schön-Rohtraut,

So dient der Knab auf Ringangs Schloß

In Jägertracht und hat ein Roß,

Mit Rohtraut zu jagen.

O daß ich doch ein Königssohn wär!

Rohtraut, Schön-Rohtraut lieb ich so sehr.

– Schweig stille, mein Herze!
[701]

Einsmals sie ruhten am Eichenbaum,

Da lacht Schön-Rohtraut:

Was siehst mich an so wunniglich?

Wenn du das Herz hast, küsse mich!

Ach! erschrak der Knabe!

Doch denket er: mir ist's vergunnt,

Und küsset Schön-Rohtraut auf den Mund.

– Schweig stille, mein Herze!


Darauf sie ritten schweigend heim,

Rohtraut, Schön-Rohtraut;

Es jauchzt der Knab in seinem Sinn:

Und würdst du heute Kaiserin,

Mich sollt's nicht kränken:

Ihr tausend Blätter im Walde wißt,

Ich hab Schön-Rohtrauts Mund geküßt!

– Schweig stille, mein Herze!


Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 701-702.
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