Wald-Idylle

[751] An J.M.


Unter die Eiche gestreckt, im jung belaubten Gehölze

Lag ich, ein Büchlein vor mir, das mir das lieblichste bleibt.

Alle die Märchen erzählt's, von der Gänsemagd und vom Machandel –

Baum und des Fischers Frau; wahrlich man wird sie nicht satt.[751]

Grünlicher Maienschein warf mir die geringelten Lichter

Auf das beschattete Buch, neckische Bilder zum Text.

Schläge der Holzaxt hört ich von fern, ich hörte den Kuckuck,

Und das Gelispel des Bachs wenige Schritte vor mir.

Märchenhaft fühlt ich mich selbst, mit aufgeschlossenen Sinnen

Sah ich, wie helle! den Wald, rief mir der Kuckuck wie fremd!

Plötzlich da rauscht es im Laub – wird doch Sneewittchen nicht kommen,

Oder, bezaubert, ein Reh? Nicht doch, kein Wunder geschieht.

Siehe, mein Nachbarskind aus dem Dorf, mein artiges Schätzchen!

Müßig lief es in Wald, weil es den Vater dort weiß.

Ehrbar setzet es sich an meine Seite, vertraulich

Plaudern wir dieses und das, und ich erzähle sofort

Gar ausführlich die Leiden des unvergleichlichen Mädchens,

Welchem der Tod dreimal, ach, durch die Mutter gedroht.

Denn die eitle, die Königin, haßte sie, weil sie so schön war,

Grimmig, da mußte sie fliehn, wohnte bei Zwergen sich ein.

Aber die Königin findet sie bald; sie klopfet am Hause,

Bietet, als Krämerin, schlau, lockende Ware zu Kauf.

Arglos öffnet das Kind, den Rat der Zwerge vergessend,

Und das Liebchen empfängt, weh! den vergifteten Kamm.

Welch ein Jammer, da nun die Kleinen nach Hause gekehrt sind!

Welcher Künste bedarf's, bis die Erstarrte erwacht!

Doch zum zweitenmal kommt, zum dritten Male, verkleidet,

Kommt die Verderberin, leicht hat sie das Mädchen bechwatzt,

Schnürt in das zierliche Leibchen sie ein, den Atem erstickend

In dem Busen; zuletzt bringt sie die tödliche Frucht.

Nun ist alle Hülfe umsonst; wie weinen die Zwerge!

Ein kristallener Sarg schließet die Ärmste nun ein,

Frei gestellt auf dem Berg, ein Anblick allen Gestirnen;

Unverwelklich ruht innen die süße Gestalt.

– So weit war ich gekommen, da drang aus dem nächsten Gebüsche

Hinter mir Nachtigallschlag herrlich auf einmal hervor,

Troff wie Honig durch das Gezweig und sprühte wie Feuer

Zackige Töne; mir traf freudig ein Schauer das Herz,

Wie wenn der Göttinnen eine, vorüberfliehend, dem Dichter

Durch ambrosischen Duft ihre Begegnung verrät.

Leider verstummte die Sängerin bald, ich horchte noch lange,[752]

Doch vergeblich, und so bracht ich mein Märchen zum Schluß. –

Jetzo deutet das Kind und ruft: »Margrete! da kommt sie

Schon! In dem Korb, siehst du, bringt sie dem Vater die Milch!«

Und durch die Lücke sogleich erkenn ich die ältere Schwester;

Von der Wiese herauf beugt nach dem Walde sie ein,

Rüstig, die bräunliche Dirne; ihr brennt auf der Wange der Mittag;

Gern erschreckten wir sie, aber sie grüßet bereits.

»Haltet's mit, wenn Ihr mögt! es ist heiß, da mißt man die Suppe

Und den Braten zur Not, fett ist und kühle mein Mahl.«

Und ich sträubte mich nicht, wir folgten dem Schalle der Holzaxt;

Statt des Kindes wie gern hätt ich die Schwester geführt!


Freund! du ehrest die Muse, die jene Märchen vor alters

Wohl zu Tausenden sang; aber nun schweiget sie längst,

Die am Winterkamin, bei der Schnitzbank, oder am Webstuhl

Dichtendem Volkswitz oft köstliche Nahrung gereicht.

Ihr Feld ist das Unmögliche; keck, leichtfertig verknüpft sie

Jedes Entfernteste, reicht lustig dem Blöden den Preis.

Sind drei Wünsche erlaubt, ihr Held wird das Albernste wählen;

Ihr zu Ehren sei dir nun das Geständnis getan,

Wie an der Seite der Dirne, der vielgesprächigen, leise

Im bewegten Gemüt brünstig der Wunsch mich beschlich:

Wär ich ein Jäger, ein Hirt, wär ich ein Bauer geboren,

Trüg ich Knüttel und Beil, wärst, Margarete, mein Weib!

Nie da beklagt ich die Hitze des Tags, ich wollte mich herzlich

Auch der rauheren Kost, wenn du sie brächtest, erfreun.

O wie herrlich begegnete jeglichen Morgen die Sonne

Mir, und das Abendrot über dem reifenden Feld!

Balsam würde mein Blut im frischen Kusse des Weibes,

Kraftvoll blühte mein Haus, doppelt, in Kindern empor.

Aber im Winter, zu Nacht, wenn es schneit und stöbert am Ofen,

Rief' ich, o Muse, dich auch, märchenerfindende, an!
[753]

Quelle:
Eduard Mörike: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1967, S. 751-754.
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