Kein Himmel hilft

[114] Das Elend grollt. Es hungert, und es friert

das Volk – besiegt im Krieg, besiegt im Hoffen;

und Not, die täglich neue Not gebiert,

besiegt den letzten Mut, den letzten Stolz.

In tiefster Seele auf den Tod getroffen,

schleicht winselnd in die Kirchen Mann und Weib,

kniet betend nieder vor dem Schmerzensleib

und weint sein Leid zum Kreuz empor aus Holz.

Der Priester mahnt: Mit Glauben und Geduld

mögt ihr euch fromm dem ewigen Geist verbünden,

der die Gebete lohnt, so ihr die Sünden,

die ihr in irdischen Nöten büßen müßt,

in Reue abschwört. Leidet für die Schuld,

in dieser Welt in Frevelmut begangen.[114]

Im Jenseits, wenn ihr Gottes Füße küßt,

sollt ihr zu lichter Seligkeit gelangen ...

Und dumpf und warnend ruft vom steilen Turm

die Glocke den getretnen Menschenwurm.

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Auf, Menschen, wer vor Jenseitgöttern kniet!

Springt auf die Füße! Reckt den Kopf! Die Arme!

Kein Himmel hilft euch. – Werft das Hemd, das hären

den Staub des Leids in seine Falten zieht,

dem Staube zu, der muffig aus Altären

zu Gott empordampft, daß er sich erbarme! –

Sehr irdisch ist die Not, die euch bedrückt;

sehr irdisch sind die Ketten, die euch fesseln.

Ihr tragt das Kreuz; ihr tragt den Kranz aus Nesseln;

ihr schwankt nach Golgatha, gepeitscht, gebückt; –

und die euch peitschen, die ans Kreuz euch schlagen,

sie sind's, die euch von Schuld und Demut sagen ...

Ja, Volk, bereue! Nicht, was du getan –:

bereue, was du sträflich unterlassen!

Doch übe deine Reu mit gradem Rücken.

Lehr deine Hände, nach dem Glück zu fassen;

entwöhn dein Herz dem gottergebnen Wahn

und laß es sich an Licht und Lust entzücken.

Nicht Demut sei dein Streben, sondern Mut!

Nicht winseln sollst du, sondern dich erlösen!

Wer Welt und Leben wahrhaft liebt, ist gut.

Der irdische Mensch nur macht sich frei vom Bösen.

Kampf macht dich frei! – Hörst du das Elend grollen?

So zwingst du es:

Frei denken! Und frei wollen!

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 114-115.
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