Hungersnot

[108] Viel Hunderttausende liegen tot,

tief ins geschändete Ackerland

vom Eisengeziefer niedergestreckt.

Aus ihren Gebeinen kriecht und droht

und aus den Wüsten von Schutt und Brand –

und nagt am Volksmark und saugt und leckt

des Krieges Schwester, die Hungersnot.


Sie nistet über Dächern und Tor,

sie senkt sich über Menschen und Vieh,

kreist über den Dörfern ohne Laut.

Kein Auge kann sie erspähn, kein Ohr.

Doch alle Sinne wittern sie.

Erschaudernd wirft sich jede Haut,

und jedes Haar strafft sich empor.


Die Blicke irren hohl und starr.

Ein Kind zerrt bang an der Mutter Schurz.

Zum Kirchhof fährt ein winziger Sarg.

Der Ortsschulz und der Gemeindepfarr

beraten bleich. Ihr Atem geht kurz –

schon wird's in der eigenen Küche karg.

Wir haben gesiegt! lallt blöd ein Narr.
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Das Heer, das tot in der Fremde liegt,

das schafft der Heimat kein Brot herbei.

Doch viele zieht es sich nach in den Grund,

die niemands Feind sind, von niemand bekriegt.

Millionen modern, vom Jammer frei.

Irr tönt aus dorrendem lallendem Mund

des Narren Ruf: Wir haben gesiegt!

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 108-109.
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