Das Gutachten

[256] Als Karl Hübner nach furchtbaren Kämpfen der Kränkung, der Eifersucht, des Zweifels und der seelischen Abwehr seiner Geliebten auf den Kopf zugesagt hatte, daß sie ihn mit Ferdinand Blohm betrüge, da antwortete Lisa ganz ruhig und selbstverständlich: »Ich weiß nicht, was du von mir willst. Was ich in deiner Abwesenheit tue, geht dich nicht das geringste an. Hab ich dich je nach der Art deines Verkehrs mit diesem oder jenem Mädchen gefragt? Besitzrechte auf meine Person habe ich dir niemals zugestanden. Daß ich dich liebhabe, weißt du. Genügt dir das nicht, so mußt du auf mich verzichten. Über meine Beziehung zu Blohm gebe ich dir keine Auskunft. Du fragst ja auch nur aus ganz kleinlichen und selbstischen Gründen danach. Ob ich ihn liebe oder mit ihm befreundet bin, ist meine Sache. Von ›Betrügen‹ zu sprechen ist unglaublich dumm.«

Das hatte Karl Hübner sehr zu denken gegeben. Eigentlich hatte Lisa natürlich recht. Aber wenn man ein Mädchen liebt, ist es einem doch nicht gleichgültig, ob es einem treu ist oder nicht. Er drehte sich eine Zigarette und ließ sie wieder auseinanderfallen. Er wollte mal mit Dr. Otto offen über die ganze Geschichte sprechen. Allerdings – der hatte ja Lisa und ihm selbst die Ansichten über die geschlechtliche Exklusivität als lächerliches Vorurteil spießiger Kleinbürger erst beigebracht. Trotzdem würde er Karls Nervenqualen angesichts des realen Falles schon begreifen, ein Facharzt für psychische Leiden, gescheit, einfühlend und voll beruhigender Güte.

Dr. Otto kam.[256]

»Doktor«, sagte Karl Hübner, als sich der Freund kaum gesetzt hatte, »ich halt's nicht mehr aus. Du mußt mir helfen. Lisa macht mich verrückt. Ich muß, muß absolut wissen, was sie mit Blohm hat.«

»Frag sie doch.«

»Sie sagt's mir nicht. Es gehe mich nichts an.«

»Recht so. Sei doch vernünftig, Karl. Stell dir doch vor: wenn Lisa bei dir ist, möchtest du die Empfindung haben, es hätte sich irgendwer drum zu kümmern?«

»Ich kann's aber nicht ertragen. Ich kann nicht!« Er riß an seinen Haaren.

»Dann mußt du mit ihr brechen.«

»Das kann ich erst recht nicht. Versteh mich doch: ich muß doch einen Menschen haben, eine Frau, die mich liebt, an die ich mich halten kann, die –«.

»Halt! Du brauchst eine Frau, an die du dich halten kannst. Dann ist deine Liebe zu Lisa nichts als Schwäche. Du willst das frische Mädel, das mit offenen Augen ins Leben schaut und nur sich selbst gehören will, als Geländer für deine Wackligkeit benutzen. Statt seelenfroh zu sein, daß sie dich liebt, verlangst du ›Treue‹ von ihr und peinigst sie und dich selbst mit armseliger Eifersucht. Schäme dich ein bißchen, mein Junge.«

»M – meinetwegen«, sagte Karl Hübner, der manchmal Schwierigkeiten hatte, gewisse Anfangsbuchstaben herauszubringen. »Ich weiß das alles. Aber es geht mir nun mal gegen das Gefühl. Und übrigens – – andern Leuten – es gibt doch nicht bloß so verstiegene Kreise wie unsre – ist die Treue in der Liebe die natürlichste Forderung von der Welt. Mit dem Kopf geb ich natürlich dir recht, aber mit dem Gefühl – –«.

»Du mußt darüber hinwegkommen. Dein ganzer Umgang lebt in der Welt, die diese Überlieferungs-Suggestion abgetan hat. Und Lisa selbst hat dich doch nie darüber zu täuschen versucht, daß sie ebenso denkt wie alle deine Freunde.«

Es gab ein sehr ernsthaftes Gespräch. Der Doktor[257] zerpflückte mit seiner sachlichen Klarheit jeden Einwand Hübners, brachte ihn auch endlich zu dem Entschluß, gegen seine törichte Schwäche anzukämpfen. Ja, er wollte Lisa ihre Freiheit lassen und die Freiheit, die sie ihm einräumte, ausnutzen. Am liebsten hätte er es ihr sofort gesagt: Also, ich will mich ändern. Ich will dich nicht mehr quälen und dir in Gedanken nachspitzeln. Tu, was du willst, wenn du mir nur gut bist, solange wir beisammen sind.

Könnte er es ihr nur gleich klarmachen, womöglich mit den klugen, einleuchtenden Worten des Doktors. Schade, daß sie nicht da war. Wo mochte sie sein? – Bei Blohm? – Karl Hübners Stirn zog sich zusammen. Er sah das Zimmer des andern, sah Lisa, wie sie schöntat mit ihm. Wo waren plötzlich die guten Vorsätze, die charaktervollen Entschlüsse? Der Doktor sprach gelassen weiter. Er merkte nichts von den veränderten Bildern in Karls Gedanken.

Da schlug dessen Faust auf den Tisch. Wütend sprang er auf. Das Fenster klirrte. Der Doktor fuhr erschrocken zusammen.

»Zum Teufel mit eurer freien Moral! Dreimal zum Teufel! Ich ertrag's nicht! M – mir gehört sie! Den Kerl, der sie anrührt, bring ich um! Sie erschieß ich – oder mich selbst. Nein, den geilen Bock, den verfluchten, den erschieß ich! Einen von uns dreien bring ich um! Der Satan soll mich holen – einer muß dran glauben: sie oder ich oder er! Einer von uns dreien!!«

Dr. Otto ließ den Ausbruch austoben. Danach nahm er den Freund bei der Hand: »Ich will dir einen Vorschlag machen, Karl. Du brauchst Erholung, eine andre Umgebung, Luftwechsel, neue Eindrücke. Du weißt, ich fahre nach Pallanza hinunter. Komm mit.«

»Hab kein Geld«, knurrte Hübner.

»Ich lad dich ein. Es ist auch für mich besser, wenn ich in Begleitung bin.« Es war nicht schwer, den aufgeregten Menschen zu überreden. Er sah selbst ein, daß[258] ihm die räumliche Entfernung von Lisa den seelichen Druck erleichtern werde.

Säßen wir nur erst auf der Bahn! dachte der Doktor, während er zu Hause die Reise Vorbereitungen traf. Der Junge ist imstande, noch vorher Dummheiten zu machen. Es war unbedingt notwendig, die Abreise aufs äußerste zu beschleunigen. Die krankhafte Überreizung Hübners konnte jeden Augenblick zu einem Exzeß führen. Der Doktor überlegte einen Moment, dann nahm er einen Bogen Papier und schrieb:

»Der Maler Karl Hübner ist mir seit drei Jahren persönlich befreundet und befindet sich seit einem halben Jahr in meiner nervenärztlichen Behandlung. Er ist psychopathisch schwer belastet, leidet an hysterischen Dämmerzuständen, die zeitweilig seine freien Willensentschließungen beeinträchtigen. Sollte er in Erregung oder Verwirrung eine strafrechtlich unzulässige Handlung begehen, so ist er nach meiner ärztlichen Überzeugung unter keinen Umständen dafür verantwortlich zu machen. Ich halte es für angezeigt, dies für alle Fälle schriftlich festzustellen.«

Dieses Gutachten unterzeichnete er, datierte es einige Wochen zurück und legte es in seine Brieftasche.

Karl Hübners Zorn war vergangen. Er kramte in aller Ruhe seine Sachen zusammen und legte ein Stück nach dem andern sorgfältig in den Koffer. Aber als ob eine Feder sich nicht ganz abgespult hätte und noch hin und wieder einen kleinen Ruck macht, hielt er während des Packens zwei-, dreimal inne, sah starr in die Luft und quetschte tonlos, wie automatisch hervor: »Einer von uns dreien!« – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Dr. Otto und Karl Hübner bezogen im Deutschen Hause in Pallanza zwei nebeneinander liegende Zimmer mit gemeinschaftlichem Balkon zum See hinaus.

Die Reise war ganz gut verlaufen. Zuerst war Karl Hübner ziemlich schwer aus seinem Vorsichhinbrüten[259] aufzuwecken gewesen. Die Pracht der Schweiz hatte ihm aber das Malerauge geöffnet, und er wurde wirklich lebhaft, als der Doktor ihn in der Gotthardbahn von einem Fenster zum andern jagte und er die Dörfer und Städtchen, die er eben noch zur Rechten hoch über sich gesehen hatte, plötzlich links unter sich liegen sah. In Locarno verließ man die Eisenbahn und trat in froher Erregung die Wasserfahrt an. Die düstere Herrlichkeit des Lago Maggiore, anfangs eingepreßt in dunkelgrüne Berghänge, die sich hier und da vulkanartig zuspitzten, das gehobene Bewußtsein, als das Schiff bei Brissago die Grenze Italiens schnitt, brachte die kleine Menschlichkeit des Künstlers ganz zur Ruhe. Der See verbreiterte sich, wurde lichter zwischen den niedriger geschwungenen Bergen, und nahe dem Ziel senkten sich die Höhen, zur Linken teilte sich das Wasser, das Ufer in der Ferne verschwand. Rechts aber erschienen, das einbiegende Schiff begrüßend, die Zypressengärten von Intra. Dicht vorüber ging's, den Borromäischen Inseln zu, und in rascher Wendung keuchte die Maschine an die Landungsbrücke von Pallanza.

Nun standen sie auf dem Balkon und genossen die Fernsicht. Hinter der Isola Madre sank die Sonne. Sie legte gelbe Streifen über den Horizont, die von den mächtigen Massen des Simplonzuges bis tief in die lombardische Ebene reichten. Dort drüben lag Genua, lag das Mittelmeer, nicht weiter als einen kurzen Schwalbenflug. Lange sahen die Freunde schweigend hinaus.

Als es Abend wurde und im Ort an den Fenstern die Lichter aufglühten, ging Hübner allein aus dem Hotel. Er erheiterte sich an der Geschäftigkeit der Menschen bei der Landungsbrücke, wo Italiener und Schweizer, Engländer und Russen sich lärmend umeinander bewegten und schwarzlockige Gepäckträger mit sicherer Gleichgültigkeit zwischen der betriebsamen Aufregung der reichen Leute ihre Arbeit taten. Er strich durch die hügeligen, engen, seltsamen Straßen, wo vor den Häusern[260] Südfrüchte und Ansichtskarten, Kinderschiffchen, Sandalen und Leinenanzüge aufgebaut waren, kam an Osterien vorbei, vor denen junge Italiener spielten, schrien und zechten, auf die Chaussee, die sich erst an wundervollen Gärten mit exotischen Gewächsen entlangzog, dann zwischen den riesigen Bergen zur Linken und dem im Dunkeln glitzernden See zur Rechten weiterführte.

Sterne blitzten am tiefdunkelblauen Himmel, schwer wehte der nächtliche Duft des Südens von den Gipfeln herab, aus dem Wasser herauf. Karl Hübner fühlte den Druck der Luft um seinen Kopf. Seine Gedanken krochen zurück zu den Skrupeln, denen er fliehen wollte. Ob Lisa ihn vermißte? Kaum. Er sah sie im Zimmer des andern, sah Ferdinand Blohm, wie er mit ihr schöntat. Er hätte nicht reisen sollen! Sonst konnte er doch kontrollieren, wann sie nicht bei ihm war; das gab immer einen Anhaltspunkt. Jetzt wußte er gar nichts. Jetzt war er fort, und sie konnte von früh bis abends bei Blohm sein und – von abends bis in die Frühe! Ganz wie es ihr paßte. Seine Eifersucht erreichte sie gar nicht. Einer muß dran glauben, knurrte er und griff in die Tasche. Dort stak sein Revolver mit der Perlmutteinlage. Hehe, den hatte er sich schon beigesteckt, als es auf die Reise ging, auch noch nachgesehen, ob er geladen sei.

Er holte die Waffe hervor und besah den hübschen kunstvollen Griff. Die Sicherung war geschlossen. Karl hielt den Lauf ziemlich weit von sich und richtete die Mündung zur Seite. Ach, es konnte ja nichts passieren; er drehte das Ding mutig zu sich herum und sah ihm zärtlich in den Schlund, wie eine Mutter dem Kinde, das über Halsschmerzen klagt. Es war prickelnd. Langsam hob er den Revolver höher, setzte ihn an die Stirn. Der Stahl war kalt. Karl Hübner empfand ein Gefühl von Tapferkeit. Das stimmte ihn besser. Er imponierte sich. Ein Windzug erinnerte ihn, wo er sei, was er treibe. Rasch schob er die Waffe in die Tasche, ging eilig zurück zum Deutschen Hause.[261]

»Doktor«, sagte er, »bitte, nimm du den Revolver in Verwahrung. Es ist wohl sicherer, wenn ich ihn nicht bei mir trage.«

Dr. Otto freute sich über die Verständigkeit des Freundes und legte das Instrument neben seine Brieftasche ins Nachtkästchen. – –

Die Verbindungstür zwischen ihren Zimmern stand offen. Karl Hübner hatte es so gewünscht. Das Alleinsein beunruhigte ihn. Er brauchte einen Zeugen für seine Empfindungen. Sie riefen einander »Gute Nacht!« zu.

Der Doktor, müde von der langen Reise mit ihren vielerlei Eindrücken, abgespannt auch von der Sorge um den Freund, der stündlich für Aufregung sorgte, horchte ins Nebenzimmer. Er hörte ein schmerzliches Stöhnen; aber der Doktor wußte Bescheid: das war kein Stöhnen einer verzweifelten Seele, es war ein Stöhnen, das gehört werden wollte, das das Einschlafen des andern erwartete, um selbst zur Ruhe kommen zu dürfen. Der Doktor lächelte und schlief ein.

Karl Hübners Stöhnen gab sich sofort, als er die regelmäßigen Atemzüge des Freundes wahrnahm. Er verfiel in Betrachtungen. So: jetzt war er also in Italien, im Lande der Schönheit und der Künste. Und zwar war er nicht als Maler hier, um am Lago Maggiore Landschaftsmotive zu suchen, sondern – eigentlich doch als Patient, sozusagen als Rekonvaleszent, um sich von den unbequemen Folgen einer neumodischen Moral zu erholen. Eine komische Sache, und es war natürlich blödsinnig, von so einer überstürzten Reise die Einsicht zu erwarten, daß alle seine besten und tiefsten Gefühle falsch und philiströs sein sollten. So was! Seine Liebe zu Lisa saß doch wohl etwas fester, als daß man sie mit einer Luftkur im Süden aus ihm herausziehen könnte. Lisa! Er wurde sentimental und dachte daran, wie er sich heute auf dem Spaziergang den Revolver an die Stirn gehalten hatte. Hätte er nur abgedrückt! ... Am Ende sollte er es jetzt noch tun! Draußen an der Chaussee, wo die[262] Gärten aufhören, zwischen dem Lago und den Bergen! Morgen würden sie ihn finden, bleich und tot, im hohen Gras, und die Zypressen würden über ihm rauschen und der Seeweinen. – Was der Doktor wohl sagen würde? – Und Lisa?! Sie würde ihn schon betrauern; vielleicht sähe sie ein, was sie ihm angetan hatte, und Blohm, der doch eigentlich die Schuld trug, wäre natürlich für sie erledigt. Er sprang aus dem Bett und stellte sich ans Fenster. Der Mond stand hell über dem Wasser, wie ein gelbes Horn, aus dem giftige Dämpfe steigen. Der Himmel war wie aus violettem Samt, von dem sich die Sterne schreiend grell abhoben. Der eindringliche Rhythmus des Lago Maggiore schlug laut ans Ufer.

Der Doktor atmete ärgerlich laut. Der konnte unbekümmert schlafen, während der Freund, der von ihm zu dieser lächerlichen Reise verführte Freund, drei Schritte entfernt die Weihe und den Schauder des Todes verspürte. Nun, er sollte sich wundern, er und auch Lisa. Sie würden schon innewerden, wie unrecht sie ihm taten; Lisa würde sich treulos schelten und der Doktor sich verfluchen wegen der einfältigen Idee, ein freier Mensch dürfe nicht eifersüchtig sein.

Der Entschluß stand fest. Karl Hübner kleidete sich schnell an. Der Mond gab dem Zimmer eine dumpfe Helligkeit, die der Todesstimmung sehr zugute kam.

Dr. Otto schlief mit offenem Munde. Sein Gesicht zeigte den zufriedensten Ausdruck. Karl Hübner öffnete das Nachtkästchen. Da lag der Revolver. Der Mond schien so hell in die Schublade, daß das Muster der Perlmutteinlage am Griff deutlich zu erkennen war. Vorsorglich nahm der Selbstmörder die Waffe in die Hand. Dies war also das schmale schwarze Rohr, aus dem ihm noch in dieser Stunde der Tod in den Schädel fahren sollte. Draußen bei der Chaussee, wo die Zypressen im Nachtwind rauschen. Ihn fröstelte ein wenig. Aber eine Entschlossenheit straffte ihn, die nicht mehr zur Prüfung stand.[263]

Er schob das Nachtkästchen zu, zog es gleich wieder auf. Nicht, um den Revolver zurückzulegen. Das kam gar nicht in Frage. Aber da hatte er eben auch des Doktors Brieftasche liegen sehn. Karl Hübner legte den Revolver auf den Nachttisch und klappte die Brieftasche auf. Da stak ein dicker Stoß zusammengefalteter Hundertlirescheine. Die Ecken zwischen zwei Fingern, ließ er die Banknoten zärtlich über den Daumen blättern.

Da war noch ein Zettel, der steckte allein. Karl Hübner entfaltete ihn mit einem scheuen Blick auf den Schlafenden. Es war das Attest – für alle Fälle. – Das war ja merkwürdig. Stand es so?! Und das Datum lag schon mehrere Wochen zurück. – Also für unzurechnungsfähig hielt ihn der Doktor und traute ihm zu, er könne in geistiger Verwirrung Verbrechen begehen! Na, er sollte sich getäuscht haben, der Herr Psychologe und Psychiater! Morgen, vor der Leiche des Freundes, würde er ja zur Einsicht kommen.

Der Maler legte den Zettel zusammen und steckte ihn wieder in die Brieftasche, streichelte noch einmal über die Geldscheine und schloß die Schublade. Er nahm den Revolver wieder zur Hand. Ihm fiel etwas Neues ein: Wenn er sich gleich hier erschösse! Gleich vor dem Bett des Doktors! Der würde einen netten Schrecken kriegen, wenn plötzlich der Schuß dröhnte und Karl tot in seinem Blut daläge!

Eine förmliche Wut gegen den Doktor befiel ihn. Der hatte es gut. Wenn die Hundertlirenoten ihm, Karl Hübner, gehörten, dann wäre er einfach heute noch zurückgefahren zu Lisa; dann wären alle Zweifel und Ängste behoben. Jetzt war das Unglück da; der da hatte es herbeigeführt mit seinen verschrobenen Anschauungen, die Lisa den moralischen Rückhalt gaben für ihr Verhalten. Was dabei aus dem andern Menschen wurde, das scherte ja den Doktor nicht. Wer das Geld hat, kann ja bestimmen, und der andre ist abhängig, muß sich ducken und gängeln lassen. Und nun dies Attest! Wie kam denn der[264] Mensch dazu, seinem angeblichen Freund einfach zu bescheinigen, daß er verrückt sei? Was bildete er sich überhaupt ein? Und was für eine strafrechtlich unzulässige Handlung sollte er, Hübner, denn wohl begehen? Meinte der Doktor, er werde Lisa umbringen oder – oder Blohm?! Karl Hübner zuckte zusammen. Donnerwetter, nein! Mochten doch die treiben, wozu sie Lust hätten! Er dachte gar nicht daran, ihnen was anzutun. Sich selbst wollte er erschießen! Jetzt! Hier! Auf der Stelle! Du wirst dich wundern, Doktorchen!

Rasch bog er den Revolver aufwärts. Einen Augenblick zögerte die Hand, dann riß er sie hastig hoch – der Stirne zu ...

Aber er vollendete die Bewegung nicht. Blitzschnell traf das Hirn eine andre Entscheidung. Das Handgelenk fuhr herum. Die Waffe stand vor dem Kopf des Doktors. Karl Hübner drückte ab. – – –

Dr. Otto gab einen röchelnden Seufzer von sich. Seine Lider hoben sich ein wenig; die halboffenen Augen starrten mit gläsernem Erstaunen ins Leere.

Er war gleich tot.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Als die durch den Schuß alarmierten Hotelleute ins Zimmer drangen, stand Karl Hübner wie gelähmt vor dem Bett seines Freundes. Die rechte Hand krampfte sich um den Revolver, die linke hielt er mit gespreizten Fingern schief vor sich. Auf die Fragen, die man an ihn richtete, antwortete er nicht. Er brachte nur ein blödes W – – w – – heraus.

Das Gericht konnte ihm nichts anhaben. Das bei dem Ermordeten vorgefundene ärztliche Gutachten, das von den Sachverständigen als in jeder Hinsicht einwandfrei bestätigt wurde, bedingte die Freisprechung Karl Hübners.

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 256-265.
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