Kindliche Fragen

[183] Scharen von Männern, denen die Felle verwegen um die Schultern lagen, schritten vorbei, immer mehr, in endlosem Zuge, und die Keulen hingen ihnen schwer in den Händen.

»Wohin gehen die Männer?« fragte das Kind, aufgestützt auf die Knie der Urahne, die mit zitternden Fingern mürbes Laubwerk ins Feuer des Erdherdes streute.[183]

Der Vater schnitt mit einem scharfen Stein ein Stück Baumrinde zur Sandale und maß die Breite an seiner Fußsohle ab. Er antwortete: »In den Krieg.«

Das Kind schaute zum Vater hinüber. »Was machen sie da?«

Der Vater lachte. »Sie schlagen die Feinde mit ihren Keulen tot.«

»Was haben ihnen die Feinde getan?«

»Sie wollen sie totschlagen.«

»Die bösen Feinde! Warum wollen sie unsre Männer totschlagen?«

»Weil die ihnen ihr Land wegnehmen wollen.«

»Warum wollen unsre Männer den Feinden das Land wegnehmen? Haben sie denn selber keins?«

»Doch. Aber je mehr Land einer hat, desto reicher ist er.«

»Ist es gut, reich zu sein?« fragte das Kind weiter.

»Das will ich meinen.«

»Bist du reich, Vater?«

»Nein, mein Kind, ich bin arm; aber für unser kleines Haus reicht es.«

»Wenn es doch für uns reicht, warum ist es dann gut, reich zu sein?«

»Wären wir reich, dann könnte ich Leibeigene für mich arbeiten lassen.«

»Was ist das – Leibeigene?«

»Das sind Menschen, die alles tun müssen, was ihr Herr ihnen aufträgt.«

»Warum gehst du nicht mit in den Krieg und schlägst die Feinde tot? Dann nimmst du ihnen ihr Land weg und bist reich und schenkst mir Leibeigene, daß ich nicht zu arbeiten brauche, wenn ich groß bin.«

»Du sollst aber arbeiten, wenn du groß bist. Faulheit ist ein Laster.«

»Aber dann brauche ich doch keine Leibeigenen, wenn ich selbst arbeiten soll. Dann ist es doch nicht gut, reich zu sein.«[184]

»Kleiner Narr! Der Reiche hat so viel Land, daß er es nicht allein bebauen kann. Deshalb braucht er Leibeigene.«

»Wenn er doch genügend Land hat für sich und seine Kinder, warum muß er denn noch so viel dazu haben, daß er es nicht mehr allein bebauen kann?«

»Der Racker fragt mich tot«, rief der Vater. »Gib du ihm Antwort, Ahnfrau.«

Die Alte strich dem Kinde durch die Locken. Halb zu sich selbst sprach sie: »Mancher Weise hat schon ebenso gefragt und keine Antwort bekommen.«

Das Kind schwieg eine Weile und dachte nach. Dann wandte es sich hartnäckig an die Alte: »Warum schlägt Vater nicht auch die Feinde tot und nimmt ihnen ihr Land weg?«

»Er bekäme ja das Land gar nicht.«

»Wer kriegt es denn?«

»Der Herzog, der die Männer in den Krieg schickt.«

»Wer ist das – der Herzog?«

»Das ist der Anführer der Männer«, erwiderte jetzt wieder der Vater; »ihr Herr, dem sie dienen.«

»Also sind alle die Kriegsmänner Leibeigene des Herzogs?«

»O nein, es sind freie Männer; aber sie lieben ihren Herzog.«

»Und deshalb schlagen sie die Feinde tot, bloß damit der Herzog mehr Land bekommt?«

»Gewiß. Und sie lassen sich auch töten für ihren Herrn.«

»Welcher Mann wird denn immer der Herzog?«

»Der reichste natürlich.«

»Dann lieben die Männer den, der am reichsten ist, immer am meisten?«

»Nein. Sie lieben nicht den Reichsten, sondern den Herzog.«

»Aber du hast eben gesagt, der Herzog ist es deshalb, weil er der Reichste ist. Und weil sie ihn lieben, nehmen[185] sie den Feinden das Land weg und geben es ihm. Da wird er ja immer noch reicher?«

Der Vater bastelte schweigend an seiner Sandale. Die Urgroßmutter nickte, die Lippen bewegend, vor sich hin. Das Kind hing weiter seinen Gedanken nach.

Nach einer Pause fragte es von neuem: »Wo nimmt denn der Herzog alle die Leibeigenen her, daß sie ihm das viele Land bebauen können?«

Der Vater wies auf die Männer, die immer noch schweren Schrittes vorbeizogen: »Sieh doch, wie viele Kriegsmänner es gibt!«

»Aber du sagtest doch, das sind keine Leibeigenen.«

»Gewiß nicht. Aber sie arbeiten für den Herzog. Sie zahlen ihm Abgaben, und dann dürfen sie sein Land bebauen.«

Das Kind steckte den Finger in den Mund und starrte die bewaffneten Männer so eindringlich an, daß mancher von ihnen lachen mußte. Dann wandte es sich zur Ahne und sagte ernsthaft: »Du, Ahnfrau, die Kriegsmänner sind aber dumm!«

Der Heereszug war vorübergegangen. In der Ferne war noch der Staub zu sehen, der den letzten nachwehte. Das Kind sah dem Vater bei der Arbeit zu. Plötzlich fragte es: »Vater, hat es schon immer Kriege gegeben?«

»Immer«, sagte der Vater.

»Und immer bloß, weil die Männer, die einen Herzog liebten, den Männern das Land wegnehmen wollten, die einen andern Herzog liebten?«

»Ich kann's mir nicht anders denken.«

»Wird denn niemals eine Zeit kommen, wo immer Friede sein wird?«

Der Vater zog das Kind an sich. Lächelnd sprach er: »Wenn einmal die Wagen ohne Pferde fahren und die Menschen in der Luft herumfliegen, dann wird's keine Kriege mehr geben.«

Die Alte wandte sich eifriger dem Herdfeuer zu. Sie schüttelte den Kopf und stocherte mit einem Scheit in[186] der Glut. Ihre Lippen bewegten sich. »Dann erst recht!« flüsterte sie. »Dann erst recht!«

Das Kind gab noch nicht nach. »Sag doch, lieber Vater, es ist doch nicht gut, daß die Männer sich alleweil gegenseitig totschlagen. Wird das wirklich nie aufhören?«

»Vielleicht doch einmal«, erwiderte der Vater zweifelnd. »Vielleicht kommt einmal ein großer starker Herzog, der alle anderen Herzöge besiegt und sich zum Herrn über alles Land macht. Dann wird niemand mehr da sein, der Krieg gegen ihn beginnt, und wenn er mächtig und klug genug ist, werden die Menschen in Frieden leben.«

»Und wenn der große Herzog stirbt?« beharrte das Kind. »Und wenn dann der neue Herzog nicht mehr so mächtig und klug ist, wird es dann wieder Krieg geben?«

»Wahrscheinlich wohl. – Nun laß mich aber zufrieden, Kind. Willst du noch mehr wissen, dann frage die Urgroßmutter.«

Da fragte das Kind die Urgroßmutter, ob einmal ein Herzog kommen werde, der den Menschen den Frieden bringen könne.

»Nein«, sagte die Alte, »den Herzog wird es niemals geben.«

»Also wird immer Krieg sein?«

»Nein, mein Herz. Es wird einmal ein letzter Krieg sein. Den werden die Menschen aber keinen Krieg mehr nennen. Der wird anders sein als alle Kriege. Da werden die Männer nicht mehr für die Herzöge um Land kämpfen, sondern für sich selbst um das Land, das den Herzögen gehört. Und die Keulen werden sie nicht mehr gegeneinander schwingen und einander nicht mehr Feinde nennen. Sie werden sehn, daß sie Brüder sind, die Männer des einen und die Männer des andern Landes. Wenn sie das erkannt haben, dann werden sie auch nicht mehr wünschen, reich zu werden und Leibeigene zu haben. Sie werden begreifen, daß es gut ist, zu arbeiten, wenn man für sich selbst arbeitet und nicht für einen Herzog.[187] Und wenn erst alle für sich selber arbeiten, dann wird es auch keine Leibeigenen mehr geben.«

»Aber was werden die Herren dann tun, wenn keiner mehr für sie arbeitet?«

»Sie werden selbst arbeiten wie alle andern und werden also keine Herren mehr sein.«

»Ja, Ahnfrau, das muß schön sein, wenn alle gleich sind und alle zufrieden. Wenn ich groß bin, will ich allen Männern sagen, daß sie nicht mehr für die Herzöge arbeiten und sich auch nicht für sie gegenseitig totschlagen sollen.«

»Präge dir ein Wort ein, mein Liebling. Wenn du das Wort tief im Herzen trägst und es ganz erfaßt hast, dann sollst du es weitergeben an die andern Menschen. Vielleicht wird in vielen, vielen hundert Jahren dieses Wort einmal in allen Menschenherzen Wurzel fassen. Wenn es dahin kommt, dann wird die Welt keine Kriege mehr kennen, keiner wird einen andern töten, um für einen dritten Land zu erobern. Die Menschen werden arbeiten, jeder für sich und jeder für alle andern. Und alle werden glücklich sein.«

»Wie heißt das Wort, Ahnfrau? Ich will es lernen und mir fürs ganze Leben merken.«

»Höre zu, Kind. Fange das Wort auf und fülle dein ganzes Herz damit an, und dann gib es weiter an die Menschen. Das Wort heißt: Freiheit!«

Quelle:
Erich Mühsam: Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 183-188.
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