118. Der Klawenbusch bei Kampen.

[96] Daß einst Gehölz auf Sylt gewesen ist, erzählt man sich nicht nur, sondern der Hagedorn, der im Südosten vom Dorfe Kampen steht, gibt auch davon Zeugnis.

In alten Zeiten war die ganze Talschlucht bis nach der Wuldemarsch hinunter mit solchem Gebüsch bedeckt. Das Gehölz hieß das Wolderholz oder noch häufiger der Klawenbusch, weil die Bauern aus den krummen Zweigen die Klawen ihres Pferdegeschirrs zu schneiden pflegten. Aber die Einwohner des Dorfes, auf deren Feldmark das Gehölz lag, waren besorgt, daß Leute aus andern Dörfern in der Benutzung des Holzes ihnen zuvorkommen möchten, und gönnten ihnen keine Klawen aus ihrem Busch; ja, unter sich selbst sahen sie neidisch einer auf den andern und meinten, der eine hätte unnötigerweise seinen Pferden neue Klawen gegeben oder sich zu reichlich überhaupt mit Holz und Busch versehen. So kam es, daß, weil jeder dem andern zuvorkommen wollte und jeder sich so reichlich versah, als er nur konnte, durch den Wetteifer der Kampener selbst das ganze Wolderholz bis auf den Hagedorn ausgerottet ward. Da kamen sie endlich zur Besinnung, und wohl zur Warnung der Nachkommen vor Eigennutz und Neid ist der Strauch bis auf den heutigen Tag stehen geblieben.


Mitgeteilt von Herrn Schullehrer Hansen auf Sylt.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 96.
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