611. Die alte Kittelkittelkarre.

[461] Brüderchen und Schwesterchen gingen in den Wald Beeren zu suchen. Da ward es aber ein schlimmes Wetter, es fing an zu donnern und zu blitzen, der Regen floß in Strömen und bald ward es Nacht; da verirrten sich die Kinder und kamen immer weiter in den Wald hinein. Als das Wetter sich endlich gelegt hatte, und es schon ganz dunkel war, da stieg das Brüderchen auf einen Baum und schaute um sich, ob nicht ein Lichtlein zu erspähen wäre. Da sprach das Brüderchen zum Schwesterchen: »Ja, ich seh dort ein Lichtlein, da wollen wir drauf zugehn«, stieg schnell vom Baume herunter und sie kamen an ein kleines Häuschen, das noch mitten im Walde lag. Da klopften sie leise an und eine Stimme rief von innen: »Wer ist da?« Die Kinder antworteten: »Ach, wir sind es, Brüderchen und Schwesterchen, und sind beide durchnaß von dem schlimmen Wetter und bitten um ein Unterkommen für die Nacht.« Da kam ein altes Mütterchen an die Tür und sprach: »Kinderchen, machet nur, daß ihr fortkommt, ich kann euch nicht behalten, denn mein Mann ist ein Menschenfresser, und wenn er zu Hause kommt und euch findet, seid ihr des Todes.« Aber die Kinder baten so viel, daß das Mütterchen sie doch endlich herein ließ und ein wenig beim Feuer Platz nehmen hieß, um ihre Kleider zu trocknen, gab ihnen auch ein bißchen Brot und Salz und einen Trunk Wasser zur Erquickung; »aber behalten kann ich euch nicht,« sagte sie, »in einer Stunde muß mein Mann kommen und der wird euch[461] fressen.« Als nun die Stunde beinahe um war und die Kinder sich erquickt und gewärmt hatten, sprach die Frau: »Nun machet, daß ihr fortkommt.« Da fingen die Kinder an zu weinen und sprachen: »Wo sollen wir denn die Nacht bleiben? draußen ist es dunkel und wir können nicht mehr den Weg nach Hause finden.« Sie ließen gar nicht nach mit Bitten. Da sprach die Alte: »Wenn ihr's denn wagen wollt, hier zu bleiben, so will ich euch in dem hohlen Baum hinter unserm Hause verstecken und euch morgen auch den rechten Weg zeigen; aber wenn er euch findet, will ich keine Schuld haben.« Nun führte sie die beiden in den hohlen Baum und bald darauf kam der Menschenfresser nach Hause und fing gleich an zu schnubbern und brummen: »Noro, noro, hier ist Menschenfleisch!« »Ach was«, sagte die Frau, »ich habe eben ein Kalb geschlachtet, komm her und iß dich satt.« Der Menschenfresser gab sich erst zufrieden und aß das Kalb auf, das die Frau ihm vorsetzte; aber als er damit fertig war, fing er gleich wieder an zu schnubbern und zu brummen: »Noro, noro, hier ist Menschenfleisch!« und suchte die ganze Stube durch, unter der Bettstelle, im Uhrgehäuse, aber nirgend fand er etwas, aber immer rief er: »Noro, noro, hier ist Menschenfleisch!« Die Frau sprach: »Was willst du suchen? hier ist nichts, du solltest dich schlafen legen.« Der Menschenfresser aber hörte nicht darauf und suchte noch das ganze Haus durch und als er das getan, öffnete er auch die Hintertür und wollte in den Garten; da sagte die Frau: »Bleib doch hier, ich habe draußen nur den Kalbskopf hangen und die Kalbsfüße und das frische Fell; da ist nichts für dich.« Aber der Menschenfresser ging in den Garten und »noro, noro, hier ist Menschenfleisch«, rief er, da fand er Brüderchen und Schwesterchen im hohlen Baume. Nun waren sie in großer Not und der Riese sprach: »Ich wußte wohl, daß es noch für mich einen Braten gäbe; nun will ich euch in den Keller sperren und morgen will ich euch aufhängen, ohne daß Blut fließt und dann will ich euch auffressen.« Die Kinderchen weinten sehr, aber der Riese sperrte sie in den Keller. Da mußten sie die Nacht sitzen und taten kein Auge zu vor lauter Angst und Trübsal.

Am Morgen kam der Riese und holte sie heraus. Da hatte er schon zwei Schlingen unter dem Hahnholz gemacht, darin sollten sie aufgehängt werden, ohne daß Blut floß. Das Schwesterchen stieg zuerst auf die Bodenleiter hinauf; wie es aber an die Schlinge kam, tat es, als wenn es den Kopf nicht hineinkriegen könnte und zog immer mit den Händen die Schlinge zu und sprach: »Ich weiß es nicht zu machen, lieber Menschenfresser; steig doch einmal herauf und zeig es uns.« Da stieg der Menschenfresser hinauf, hielt die Schlinge auseinander und legte den Kopf hinein und sprach: »So müßt ihr's machen!« Als nun der Menschenfresser den Kopf in der Schlinge hatte, da zog das Brüderchen unten die Leiter weg und der Menschenfresser hing unter dem Hahnenbalken. »So, Menschenfresser, da kannst du hangen bleiben«, sagten die Kinder und wollten fortgehen. Aber da fing er an, sie sehr zu bitten, sie sollten ihn da doch[462] nicht hangen lassen und ihn wieder los machen, er wollte ihnen auch nichts zuleide tun und beschwur sie hoch und teuer; da sprachen die Kinder: »Und was gibst du uns denn, wenn wir dich los machen?« Sprach der Menschenfresser:


Mien ole Kittelkittelkaar

Mit twee Bück darvœr,

Un sœben Sack Geld achterhęr.


Da machten die Kinder ihn los und der Menschenfresser gab ihnen seine Kittelkittelkarre mit zwei Böcken davor und sieben Sack Geld hinterher. Die Kinder setzten sich nun darauf und fuhren davon und die Böcke liefen so schnell, daß sie bald eine weite Strecke gekommen waren. Nun trafen sie einen Mann, der war auf seinem Lande beim Kartoffelaufkriegen. Da gaben sie ihm eine große Hand voll Geld und sprachen: »Wenn dar een kummt und fraagt na sien ol' Kittelkittelkaar mit twee Bück darvœr un sœben Sack Geld achterhęr, so hestu nicks seen.« Der Mann versprach ihnen, daß er sie nicht verraten würde. Nun kamen sie weiter, und da trafen sie einen Mann, der war auf seinem Lande beim Wurzelaufkriegen; dem gaben sie zwei große Hände voll Geld und sprachen: »Wenn dar een kummt un di fraagt na sien Kittelkittelkaar mit twee Bück darvœr un sœben Sack Geld achterhęr, so hest du nicks seen.« »Nä«, sagte der Mann, »ik will ju nich verraden.« Nun kamen sie weiter, und da fanden sie einen Mann, der war in seinem Garten beim Apfelabkriegen; dem gaben sie drei große Hände voll Geld und sagten zu ihm: »Wenn dar een kummt un di fraagt na sien ol' Kittelkittelkaar mit twee Bück darvœr un sœben Sack Geld achterhęr, so hestu nicks seen.« Auch dieser Mann versprach ihnen, daß er nichts sagen wollte, wohin sie gegangen.

Nun hatte es dem Riesen aber gleich leid getan, als die Kinder fort waren, daß er ihnen seine Karre mit den Böcken und den sieben Sack Geld gegeben hätte. Da kam er ihnen nachgelaufen und wollte seine Karre wieder holen. Wie er nun zu dem Mann kam, der die Kartoffeln aufkriegte, so fragte er ihn: »Hest du ok seen mien ol' Kittelkittelkaar mit twee Bück darvœr un sœben Sack Geld achterhęr?« Antwortet ihm der Mann: »Düt Johr staat de Kartüffeln noch billig noog.« Da ward der Riese schrecklich böse und lief eilig weiter. Als er nun zu dem Wurzelaufkrieger kam, so fragte er auch den: »Hest du ok seen en ol' Kittelkittelkaar mit twee Bück darvœr un sœben Sack Geld achterhęr?« Antwortete ihm auch der Mann: »De Worteln staat düt Johr noch billig noog.« Nun ward der Riese noch viel zorniger und stürmte fort, so schnell er laufen konnte; und so kam er bei dem Manne an, der die Äpfel in seinem Garten abkriegte, und fragte ihn: »Hest du ok seen mien Kittelkittelkaar mit twee Bück darvœr un sœben Sack Geld achterhęr?« Da erschrak sich der Mann so vor dem Riesen, daß er gestand, wo die Kinder hingefahren wären. Nun eilte der Riese ihnen nach und bald hörten sie es hinter ihnen prusten und schnauben. Da sprach Brüderchen zum[463] Schwesterchen: »Sieh dich mal um, gewiß ist der Riese hinter uns.« Das Schwesterchen sah sich um und rief: »Ja, der Riese ist hinter uns und uns schon ganz nahe.« Da waren sie eben auf einen Berg hinaufgefahren und es war schon Abend; da fuhren sie noch den Berg hinunter und schnell in eine Höhle hinein: »So«, sagte Brüderchen, »hier wollen wir die Nacht bleiben und morgen weiter fahren, und der Riese soll uns nicht finden.«

Nun kam der Riese auch auf den Berg und sah sich allerwärts noch einmal um und konnte nirgends die Kinder mit der Karre und den Böcken sehen. Da stieg er noch den Berg hinunter, legte sich nieder und dachte, morgen wirst du sie schon einholen, du hast heute einen weiten Weg gemacht, und darauf schlief er ein. Aber nun hatte er sich gerade auf die Höhle gelegt, worin die Kinder mit den Böcken waren, so daß sein Leib ganz den Eingang bedeckte. Da wußten sie's nicht anders anzufangen, als daß sie den Riesen, indem er schlief, heimlich und ohne daß er's merkte, tot machten. Aber nun konnten sie den toten Riesen nicht von der Stelle wälzen und die Kinder kamen in große Not und litten Hunger und Durst, und die Böcke auch, und sie wußten gar nicht, wie sie wieder aus der Höhle kommen sollten. Da aber entstand in der Nacht ein groß Geschrei und Flügelschlagen wie von einem Raubvogel, und sie merkten, daß der Vogel von dem Riesen fresse. Da wurden sie ruhig und warteten bis zu der nächsten Nacht. Da kam der Vogel wieder, machte ein groß Geschrei und schlug mit den Flügeln und fraß von dem Riesen, also daß am andern Morgen schon der Tag durchschimmerte. Nun kam der Vogel auch noch in der dritten Nacht wieder und hackte das Loch noch größer, und hätte er das nicht getan, so wären Brüderchen und Schwesterchen nimmer herausgekommen und wären vor Hunger in der Höhle gestorben, und die Böcke auch. Nun aber ward das Loch so groß, daß sie hindurch konnten, und darum fuhren sie nach Hause mit der alten Karre mit den zwei Böcken davor und den sieben Sack Geld hinterher, und ihr könnt euch denken, was Vater und Mutter sich gefreut haben, als sie endlich ihre lieben Kinderchen wieder hatten.


Aus Marne.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 461-464.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagen, Märchen und Lieder
Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
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Plattdeutsche Legenden und Märchen: aus: Karl Müllenhoffs Sammlung (1845): Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg
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