644. Graf Hans von Holstein und seine Schwester Annchristine.

[499] Es ritt ein Jägersmann über die Heid (den Rhein),

Er wollte Graf Holsteins Schwester frein.


»Meine Schwester Annchristine, die krigst du ja nicht,

Denn sie ist von Adel, das bist du ja nicht.«


»Und ist sie von Adel so hübsch und so fein,

So hat sie doch ein klein Kindelein.«


»Musje Jäger, das mußtu gelogen sein,

Meine Schwester Annchristine ist Jungfer fein.«


»Sollen alle meine Worte gelogen sein,

So laßt die Christine mal kommen herein.«


Da schickte Graf Hans Annchristine einen Boten,

Sie soll kommen zu Pferde und nicht zu Wagen.


Und als der Annchristine die Botschaft kam,

Sie soll gleich kommen zu Pferde heran:


»Was schickt mir mein Bruder einen so schlechten Boten?

Ich soll gleich kommen zu Pferde heran?


Sonst schickte er mir einen silbernen Wagen,

Die Pferde, die waren mit Golde beschlagen.


So lange mir her mein seiden Wickelband,

Darin ich will wickeln meinen jungen Triafant (? Dreasand?).


Ich wickel ihn heut und gar zu gern,

Ich wickel ihn heut und nimmermehr.


Und langet mir her mein Beutelein fein,

Damit ich kann lohnen die Mägdelein mein.


Ich lohne sie heut und gar zu gern,

Ich lohne sie heut und nimmermehr.


Und langet mir her meinen weißen Rock,

Drin will ich mich schnüren, als wär ich eine Pupp.«


Annchristine wohl zu Pferde sprang,

Ihr gülden krauses Haar lang nieder hangt.


Sie reit wohl über Berg und Tal,

Ihr Bruder schon aus dem Fenster sah.


»Musje Jäger, das mußtu gelogen sein,

Meine Schwester Annchristine ist Jungfer fein.«


»Sollen alle meine Worte gelogen sein,

So laßt die Annchristine auf den Tanzboden h'rein.«
[499]

Graf Hans, der machte wohl nun einen Tanz,

Der Tanz, der dauerte sieben Stunden lang.


»Musje Jäger, das mußtu gelogen sein,

Meine Schwester Annchristine ist Jungfer fein.«


»Sollen alle meine Worte gelogen sein,

So laßt uns mal zücken den Schnürband fein.«


Und als sie nun den Schnürband zückten,

Die weiße Milch sprang ihr aus den Brüsten.


»Ich habe getrunken den rheinischen Wein,

Das zog mir in die Brüste hinein.«


»Und hast du getrunken den rheinischen Wein,

Das zieht doch nicht in die Brüste hinein.


Annchristine, willst du die Rute schmecken,

Oder soll ich dich mit dem Schwerte durchstechen?«


»Viel lieber will ich die Rute schmecken,

Eh' du mich sollst mit dem Schwerte durchstechen.«


Er schlug sie so sehre, er schlug sie so lang,

Bis Leber und Lunge aus dem Leibe ihr sprang.


»Halt ein, halt ein, lieber Bruder mein,

Prinz Friedrich von Engelland ist Schwager dein.«


»Ach Schwester, hättst du mir das eher gesagt,

So hätte ich dich nicht zu Tode geplagt.


Und kannst du noch bis morgen leben,

So will ich dir ganz Schweden geben.


Und kannst du leben noch einen Tag,

So will ich dich führen nach Engelland.«


»Ich kann nicht mehr leben eine halbe Stund,

Wolltst du mich auch führen nach Engelland.


Ich kann nicht mehr bis morgen leben,

Wolltst du mir auch ganz Schweden geben.« –


Es dauerte wohl bis an den dritten Tag,

Prinz Friederich von Engelland geritten kam.


»Guten Tag, guten Tag, lieber Schwager mein,

Wo hast du die Herzallerliebste mein?«


»Dein Herzallerliebste ist krank gewesen,

Und sie wird nun und nimmer genesen.«


»Sie haben mir unterwegs erzählt,

Du hättest sie selber zu Tode gequält.«


»Setz dich nieder, setz dich nieder an diesen Tisch,

Es sollen gleich kommen gebratene Fisch.«


»Gebratene Fische, die eß ich nicht gern,

Noch früher sollst du den Tod schmecken lern.


Lege dich, lege dich nur auf den Tisch,

Wir wollen dich hauen wie gebratene Fisch,


Daß jedes Stück nicht größer sei,

Als wie ein kleiner Fisch mag sein.«
[500]

Sie legten den Grafen wohl auf den Tisch,

Sie hauten ihn klein wie einen Fisch.


Annchristine, die ward getragen zu Grabe,

Graf Hans, den fraßen Krähen und Raben.


Aus Marne in Dithmarschen. Leider ist das merkwürdige Lied vielfach zerrüttet und lückenhaft. Ohne Zweifel war es ursprünglich plattdeutsch, was auch Reime (Baden: Wagen; Stock: Popp) bestätigen können. Graf Hans, Graf Holstein, Graf Feldmann oder König Hans, wie er in verschiedenen Relationen genannt wird, soll wohl der zweite Oldenburger sein; er verspricht (als Unionskönig) ganz Schweden. (Seine Schwester Margareta war an Jakob III. von Schottland verheiratet.) Trotz dieser eigentümlichen Anknüpfung aber ist der Hauptinhalt des Liedes doch vielleicht aus Dänemark herübergekommen. Ein altdänisches Lied (Danske Viser fra Middelald. II, S. 31. Grimms altdän. Heldenlied S. 322) meldet von der liden Kirsten, Waldemars I. Schwester dasselbe, was hier der Annchristine durch Graf Hans geschieht. Der Jäger entspricht gewissermaßen der Königin Sophie, mehr noch Prinz Friedrich ihrem Bruder, Herrn Buris. Natürlich darf man an keine Übersetzung denken; Schluß und Eingang beider Lieder sind durchaus verschieden. Vielmehr zeigt sich, daß das, was im 13., 14., 15. Jahrhundert in Dänemark von Waldemar und der kleinen Christel erzählt und zu Liedern verarbeitet wurde, im 16. Jahrhundert bei uns auf König Hans übertragen und glücklicherweise auch zu einem Liede gestaltet ward: wohl nur die Sage vermittelt jene beiden Lieder. Lange nach dem 16. Jahrhundert kann unser Lied unmöglich entstanden sein. Sehr zu beachten ist freilich daneben das Lied vom Pfalzgrafen am Rhein im Wunderhorn I, 259.

Quelle:
Karl Müllenhoff: Sagen, Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845, S. 499-501.
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