XXII

[173] Wieder blitzten die Machettas. Slim in der Vorhut führte einen dünnen, stark verbrauchten Stahl, der unter seiner Reckenarbeit nicht aus dem Sumsen kam. Er führte ihn mit kräftiger Hand, arbeitete mit angestrengter Umsicht und fegte Äste, Bänder und Büschel hinweg, die uns wie Peitschenschläge und Wimpelklatsche entgegenschnellten. Er hatte die feine Waffe eines Tages dem Holländer verehrt; jetzt sah ich sie wieder in seinen Händen, sie wuchs aus seiner Faust, er stürzte vor, und Zana lief geduckt wie ein Pantherweibchen hinter ihm und stieß begeisterte Rachenlaute aus, wenn er mit blitzschnellen Streichen ein Hindernis erledigte. Sie gehörte ihm mit Haut und Haaren. Sie schrie: Achi, achi! In ihren Augen saß ein beseligtes Grauen. Slim kümmerte sich nicht um sie. Es war nichts an ihm zu bemerken als eine vage Unrast. Wir gingen wie auf einer Flucht, parallel zum Flusse, talab.

Alle waren von Reisefieber besessen, von der Lust des Wanderns nach soviel Tagen der trägen Ruhe. Aber in dieser Nervosität wirkte noch ein anderes Gift, eine Art Angst und Besorgnis. Dieser Zustand saß seit dem Morgen in uns. Ein ungünstiges Vorzeichen für unsere Reise war uns entgegengetreten und unsere fünf Indianer von der Küste hatten sorgenvolle Mienen. Im Farnwald, mit dem der Djungle und unsere Reise begann, war Checho plötzlich, vom Geruch geführt, auf eine Leiche gestoßen. Es war ein totes Weib. Als wir hinzukamen, lag feist wie ein Schlauch eine geringelte Schlange in dem gepreßten Schoß, erhob sich und stand steif wie ein Stecken auf dem Endchen Schwanz, tanzte förmlich vor Wut und Furcht wie auf einem einzigen Beine. Es war ein langes, warziges Tier mit rauhgelben Häuten, die feucht umspannen schienen. Bei Nacht mochte es schöner sein. Ich hatte so meine Gedanken darüber, dachte, es könnte wohl so sein vermöge einer inneren Eigenstrahlung. Es hatte einen[173] kleinen, dummen Kopf, ein winziges Kistchen, dessen Deckel oben etwas klaffte. Slims Machetta tat ihr Werk. Sie fuhr wie Bleistiftgekritzel durch die steife Linie dort über dem Bauch der Frau, es schnalzte zwei-, dreimal, und dann wanden sich die Bestandteile des eiterspeienden Schlauches auf der gelblichen Unterlage des Leichnams. Der Kopf war durch eine humoristische Bewegung Slims van den Dusen an die Brust gesprungen. Dieser wurde so bleich, daß ich mich übel fühlte. Der Schlangenkopf war zwischen den Rockschlüssen stecken geblieben. Als der Holländer sich gefaßt schüttelte, fiel es wie eine reife Pflaume heraus, und während es am Boden lag, bewegte es mit zarter Andeutung seine Kiefer. Warum Slim dies tat und gerade in diesem Augenblicke, wo wir einer Leiche gegenüberstanden, mit einer gewissen Schadenfreude tat, blieb mir rätselhaft. Ich gestehe, daß es wieder einmal kein gutes Licht auf unseren Freund Slim zu werfen droht, und dies ist mir an dieser fortgeschrittenen Stelle meiner Erzählung nicht mehr so gleichgültig oder gar erwünscht wie früher. Man schien sich überhaupt angesichts dieser bedauerlichen Tatsache nicht richtig zu benehmen; man hätte für die Leiche doch eine kleine Christlichkeit tun sollen. Das Merkwürdigste aber blieb, daß eigentlich niemand so recht überrascht schien, sondern sich wie vor einer bekannten und überschlafenen Tatsache benahm. Checho fand die Leiche; er behauptete, sie zu riechen. Ich merkte aber weder einen Geruch, noch ein Anzeichen von Verwesung, die Vergiftungserscheinungen abgerechnet.

Die Indianer erklärten, diese Frau sei von der Schlange getötet worden. Es waren in der Tat zwei Bißstellen sichtbar. Eine kleine stichartige Wunde in der Herzgrube, aus der die rostigen Spuren eines Blutstrahles über den Leib liefen, der hart und gelb wie Bernstein schien, und eine größere Wunde im Unterleib, knapp über den Schenkeln. Dieser Unterleib war rund aufgeschwollen wie eine Blase, seine Haut war stellenweise durch die Expansion schäbig geworden und zeigte faulfarbige lila Schatten, ockergelbe Striemen oder Flecke von gänzlicher Farblosigkeit. Der gedunsene Leib mit dem nahtig verengten Geschlecht, dieser beinahe mütterliche Leib sah so traurig aus in dem Mysterium seines Stillstandes, daß ich hätte weinen mögen. Ich behauptete, Rulc, die Gattin Kelwas, des Malers, zu erkennen, aber ich gab zu, daß ich mich irren könne, denn schließlich waren alle diese Gesichter nicht genau zu unterscheiden. Indes stimmte Slim mir bei. Es war Rulc, sicherlich Rulc, er wüßte es ganz genau, ob ich ein so schlechtes Physiognomiengedächtnis hätte. »Schrecklich schlecht«, sagte[174] ich. In diesem Augenblicke fühlte ich, daß van den Dusen mich ansah. Da beteuerte ich, daß ich in der Tat Gesichter nur sehr schwer behalten könne. Erst nach einer genaueren Bekanntschaft, nach einem sozusagen intimeren Verkehr wäre ich imstande, mir einen Menschen zu merken. Ich müßte mal erst meinen Klemmer aufsetzen – so, ja ja, allerdings, das wäre also Rulc, hm ...

Ich sah auf und entdeckte, daß der Holländer wieder vollauf mit sich beschäftigt war. Das machte mich etwas ruhiger. Er war der einzige von uns, der vielleicht trauerte. Er war eine gute Seele von einem Manne. Er schien absolut keine Lebenslust zu besitzen, er war vollkommen entäußert, er war ein ungefährlicher Mann und gewiß kein Traumdeuter oder Gedankenleser.

Slim schlug zu meiner Verwunderung ein Kreuz über das Opfer und hielt eine kurze Leichenrede, die aber vorzüglich unserer eigenen Sicherheit galt. Er sagte es zuerst den Indianern und dann auf englisch zu uns. Nu aber man raus! war ungefähr der Sinn seiner Worte. Er war dicht an Zana, in Griffweite und mit dem Blicke auf ihr. Zana stand die ganze Zeit über mit verhängten Brauen und sehr ruhig dabei. Die Arme war gelangweilt, sie hatte ganz und gar kein Interesse an Leichen. Es war ihr deutlich anzusehen, daß sie fort wollte. Das Leben war doch sowieso nicht amüsant. »Hier sehen Sie ein indianisches Eifersuchtsdrama«, fuhr Slim fort und starrte unausgesetzt und nachdenklich den Holländer an, der ihm zufällig gegenüberstand und kein Auge von der Leiche wandte. »Es ist das Werk einer Nebenbuhlerin. Rulc wurde erstochen. Ein kachiertes Verbrechen; höchst merkwürdig und schlau. Diese Schlange ist angesetzt worden, sozusagen direkt in die Wunde getaucht, nachdem bereits zwei Stiche geführt worden waren. Bitte, hier, sehen Sie, warum zeigt nicht auch die Brustwunde Vergiftungserscheinungen?« Sein Blick bekam einen triumphierenden Glanz. Er wartete, daß jemand von uns beiden widerspräche. Als dies nicht geschah, fuhr er fort: »Es sind zwei Wunden, beide sehr tief. Sie rühren von einem langen sehr dünnen Messer her. Es ist ziemlich kräftig gestoßen worden. Betreffs der Schlangen mag ich mich übrigens irren. Es gibt sie hier herum in großer Anzahl und es ist wohl möglich, daß sich die eine oder die andere gerade an die Wunde verirrt hat. Ich möchte mich jetzt lieber zu dieser Ansicht bekennen und sogar noch weitergehen. Es ist wahrscheinlich, daß die Leiche mehreren Schlangen ausgesetzt war. Hier – und hier – vielleicht auch hier, aber das ist undeutlich, zeigt sie eingetrocknete Verschleimungen. Es scheint also inzwischen jemand hier gewesen zu sein,[175] der die Schlangen fortnahm, jemand, der gegen sie gesichert ist. Warum – das kann ich natürlich nicht sagen. Vermutlich aus Pietät. Oder auch aus Spielsucht. Es ist gleichgültig. Viel interessanter wäre es, zu wissen, ob die Schlangen angesetzt wurden und von wem, vom Mörder, oder von einer gleichgültigen später eintreffenden Person, oder von beiden gemeinsam – – – diese Doppelheit ist es, die mir am interessantesten scheint. Was konnten – was durften, jawohl durften diese zwei miteinander zu tun haben? Denn nun bin ich wieder überzeugt, daß die Schlangen angesetzt wurden. Es sammeln sich nicht so schnell so viele Schlangen an einem Orte, auch nicht an einer Leiche. Was meinen Sie, van den Dusen?«

Der Holländer nickte nur. Der Anblick einer Leiche schien ihn zu schwächen. Slim lachte plötzlich seltsam und sagte: »Die Indianer werden glauben, daß es die Schlange getan hat. Aber das ist gleichgültig für uns. Wir müssen eilen. Wenn es entdeckt wird, ist es ihnen ein Wink des Schicksals. Es gibt Aufruhr im Dorf. Vorwärts, Zana, marsch!« Er schloß seine große Hand rückwärts um ihren Hals, sie folgte ihm demütig wie unter einem Joche.

»Ich verstehe das nicht«, gestand ich ihm, »wie können Sie Zana so ohne weiteres mitnehmen?« »O, das ist meine Sache«, sagte er, »ich habe sie in der Hand.« Er sah glücklich und gesund aus, als er das sagte.

Die Machettas sprengten einen Pfad in den ewigen Djungle, in diese fühlbare Räumlichkeit. Die harte Arbeit erzeugte in uns eine gewisse Überreizung. Ich konnte beobachten, wie sich unter uns Weißen eine erregte Nervengemeinschaft bemerkbar machte. Eine nahe das Grauenvolle streifende Gleichförmigkeit unserer Einbildungskraft machte uns mißtrauisch gegeneinander. Und ich gewahrte, wie ich selbst von den anderen beobachtet war. Ihr Dasein in mir, der Umstand, daß sie gleichsam an mir partizipierten, machte mich matt. Vom ersten Tage an, von der Minute an, wo wir die Leiche des toten Weibes getroffen hatten, zerfraß ich mich in peinlichen Analysen. Ein panischer Schrecken bebte in mir nach. Und ich sah dieses selbe Symptom an uns allen wiederkehren, planvolle Ausdeutungen, willkürliche Vervollständigungen der Geschehnisse, die harmlos und zufällig um uns herum vor sich gingen. Es war ein Irresein, ein ungeheuerliches Synthetisieren. Seit jenem Abende nach dem Tanze Zanas, nach jener aus meinem Gedächtnis verdrängten Unterredung waren mir Zweifel und eine beängstigende Art des Träumens haften geblieben. Ich verwechselte die Welten; ich legte zwei verschiedene Talente meiner[176] Gehirnzellen sozusagen kreuzweis und vertauschte die Fähigkeit zur Analyse und zum Erkennen mit jener der Phantasie und Formkraft – oder sollte ich im Ernste an meinen Satz glauben, daß die beiden sich deckten, und daß das, was war, nur das war, was ich sann? An jenem Abende, der vor unserem plötzlichen frühen Aufbruch lag, hatte ich einen überdeutlichen Traum voll schwerer Lust gehabt. Er war von einer furchtbaren Klarheit und Sicherheit gewesen. Der Gegenstand solcher überstarker Sensationen ist nie wirklich; die Wirklichkeit ist stets verschwommener als der Traum; und, wie ich es auch drehen mochte, ich konnte mich nicht entschließen, jene Wirklichkeit anzunehmen, es war mir physisch unmöglich, an etwas anderes als an einen Traum zu glauben. Ich erwachte damals – Slim weckte mich plötzlich, ich besinne mich darauf – ich erwachte mit einem ganz voraussetzungslosen Kopfe. Nur daß wir sofort und ohne zeremoniösen Abschied, gleichsam fluchtartig aufbrechen sollten, machte mich nicht er staunt. Es kam mir nicht einmal überraschend vor, sondern einfach wie eine Verabredung. Wir ziehen aus, geräuschlos und ohne Abschied; plötzlich stehen wir mitten im Farn vor einer toten Frau. Checho hat uns gerufen. Ja, dies ist Rulc, ich erkenne sie auf den ersten Augenschein, Rulc, die gestern abend noch an meiner Hütte vorbeigekommen ist, der ich sehnsüchtige Blicke nachgesandt habe, Rulc, die schon einmal mit brennendem Schoß, in einem unnatürlich steifen und gedunsenen Zustand vor mir gelegen hatte. Und in demselben Augenblicke wiederholt sich die Erinnerung an diese elevatorische Erscheinung, ich habe mit einem Male eine klare Vision. Ich sehe, was mit Rulc, vor deren Leiche wir stehen, vorgegangen sein mag. Ein kurz zurückliegender Traum fällt mir ein, der Traum, aus dessen reflektierten Ausläufern Slim mich zur Reise aufgeweckt. – – – In diesem Traume habe ich einen Teil des Verlaufs geschaut. Merkwürdig, Slim sagt, man habe Rulc ermordet ... Hörst du den unbestimmten dünnen Klang ... hörst du die Machetta vibrieren?

Wie konnte Slim das wissen?

Die Machettas blinken, wir schlagen wieder die tagelange Schlacht gegen den Djungle, wir plänkeln uns durch ihn hindurch, wir siegen und wir sind krank vor Tatkraft. Wie einen Wirbel von Leben in der ungeheuren Lagune des Urwalds lassen wir hämische Rufe und haßvolle Blicke zurück. Vögel und Affen senden uns ihr weinerlich imitiertes Geschrei nach. Ein bösartiges Schimpfen in Naturlauten ist die Fama, die hinter uns dreinzieht und uns dem Walde da vorne schlecht empfiehlt. Unser Renommee scheint unerquicklich, wir[177] gewinnen Einblick in verlassene Affensitzungen und abgebrochene Zelte, hin und wieder stellt sich ein Stamm der Handfüßler uns kriegerisch entgegen, bespritzt uns mit Jauche und schleudert das nächstbeste Mobiliar auf uns herab. Ein paar Pistolenschüsse schaffen uns Respekt; wir wenden sie wieder bei der geringsten Kleinigkeit an, um des Abwechslung bietenden Knalles, der kleinen Liebhaberei der Massage willen, die dem Schützen in die Hand fährt. Denn die Arbeit ist und bleibt einförmig. Hin und wieder ergeben sich Zwischenfälle. Plötzlich windet sich einer der beiden Hunde, die zugleich mit Zana sich der Expedition angeschlossen und bisher ängstlich und vorsichtig zwischen unseren Beinen aufgehalten haben, heulend am Boden. An seinem Hals und Rumpf liegt ein dicker Ring. Zana springt herzu und führt eine rasche Bewegung aus. Da baumelt eine lange krötenhautige Schlange längs ihres Armes, Zana vollzieht rhythmische Schraubungen und hält das schnauzige Gesichtchen des Tieres dicht vor das ihre. Und nun steht es wieder klar vor mir. Ich sehe sie im Traum wieder am Werke, sehe Rulc breit im Farnkraut liegen. Der ganze Tatbestand ist in meinem Gehirn, es wird mir immer durchsichtiger, daß ich den Vorgang der Mordgeschichte ungefähr ahne. Ich habe ein zweites Gesicht. Ein zweites Gesicht!

Vermittelst meiner automatischen Spürnase und meines Traumlebens bin ich imstande, mir den Hergang teilweise zu rekonstruieren. Übrigens könnte ich mir Gewißheit verschaffen, ich brauchte nur den Holländer so nebenbei einmal zu befragen, was er denn an jenem schönen Abende vor unserem Aufbruche getrieben habe, und ob er sich nicht entsinnen könnte, was wir draußen auf der Savanna miteinander gesprochen hätten; ob er dann gleich schlafen gegangen sei – – – oder in diesem Sinne. Ich zweifelte nicht, daß er darüber sehr erstaunt gewesen wäre und gesagt hätte: »Aber, Mensch, Sie scheinen zu träumen.« Ich hätte mir diese Sicherheit doch holen sollen. Aber arglos und ohne vor mir den Verdacht aufkommen zu lassen, daß es mir im Grund gar nicht so sehr darum zu tun sei, verbummelte ich die Gelegenheit, so oft sie sich bot. Ich fürchtete die Aufklärung. Meine Ungewißheit war eine Existenzfrage. Ich fühlte mich in dieser Beziehung Jungfrau.

Dies war nicht alles, was in mir kämpfte. Ich trug eine starke Neugierde bezüglich der anderen mit mir herum. An diesem Punkte begegneten wir uns. Aber wir sprachen kein Wort über die Sache. Slim sah mich manchmal an. Wir hatten einen gemeinsamen Gedanken; nämlich, daß wir jeder des anderen Zustand kannten, einander[178] förmlich in Trance erhielten. Ich hätte darauf geschworen, daß seine verlegen kalten Augen es ausdrückten. Slim mußte seltsame Träume haben. Er brauchte zum Beispiel nur die Leiche einer Frau zu sehen, die natürlicherweise, etwa durch Schlangenbisse, ums Leben gekommen war; und sofort entstand in ihm innerhalb weniger Sekunden ein Bild des Hergangs. Dieses Bild war natürlich falsch. Es war eine sehr plausible und zureichende Erklärung des Falles. Aber es war eben doch nur die Erinnerung an einen ehemaligen Traum, der durch die Effekte der Wirklichkeit scheinbar bestätigt wurde. O ich kannte das. Ich wußte, wie überraschend diese Manier war. Ich wußte aber auch, daß Slim um sie wußte. Von ihm stammte ja größtenteils dieses abstrakte System, das er sich darüber zurechtgelegt hatte. Es gab also ixbeliebig viele Gesichte, nicht nur ein zweites; und jedes war zureichend, irgendwelche Effekte, die in Erscheinung traten, zu motivieren? Ich konnte da nicht mitgehen, denn ich sah den Grund dazu nicht ein. Wenn ich recht vermutete, erging es Slim just ebenso. Aber er, der Mann der fünften Dimension, war imstande, etwas zu glauben, aus geistiger Eigenwilligkeit zu glauben, auch wenn es einfach nicht zu glauben war und er dies wußte. Denn ich kannte meinen Slim genau, ganz genau, ich kannte ihn wortwörtlich, ich konnte ihn memorieren!

Ich kannte ihn so genau, daß sich zwischen uns beiden ein Analogieverhältnis herausbildete. Slim war ein mutiger Mann. Als eines Tages vor uns im Gebüsch ein Panther pfauchte, auf einen Baum sprang und auf seinen krummen Gliedmaßen, die ihn wie geschmeidige Arme in Pelzhandschuhen beliebig lancierten, zum Sprunge zurückwippte, geschah nichts anderes, als was zu erwarten gewesen war. Slim schoß seine langläufige Coltpistole ab und tötete das Tier, während es herunterpurzelte, mit dem fünften Schuß. Aber ich wußte, daß Slim später an diesem Tage Kopfweh hatte, obwohl er vortrefflich aufgelegt war. Und als ich eines Tages mit einem sonnengesichtigen alten Pavian eine Balgerei bestand, der mit beiden Händen in die Schneide meiner Machetta griff und einen gänzlichen Mangel an Absicht zeigte, loszulassen, bis sie ihm die Sehnen und Nerven bis zum vollständigen Kraftverlust durchschnitt, da wußte ich, daß Slim nun von mir das gleiche denke wie ich damals von ihm. Aber dies stimmte bei mir nicht. Ich konnte mich also damals ebenfalls verrechnet haben. Jedenfalls kannte ich Slim doch so genau, daß ich ebensogut annehmen konnte, er habe bei dergleichen Angelegenheiten weder Kopfweh noch gute Laune, sondern eine Art Scham[179] und Katzenjammer über das Abenteuer zu empfinden. Irgendwie war ich doch im Rechte über ihn. Das nächste Mal, als wir gegen eine Affenhorde demonstrierten, kam mir die Erleuchtung, daß Slim nun gewiß wüßte, ich dächte, daß er Ekel vor diesem Handwerk empfände. Möglicherweise machte es ihm aber auch Spaß und hinterließ lediglich einen kleinen Druck im Hinterkopfe, wie von einem großen Schrecken. Sicherlich stellte er dieselbe Alternative für mich auf, zugleich wußte er aber auch, daß er damit denselben Gedanken über sich in mir produziere. Wir lasen einer den anderen von der eigenen Seele ab.

Slim machte sich Gedanken über die Geschichte mit Rulc. Er freute sich über sein Witterungsvermögen. Hätte ich ihm gesagt, was ich selber nicht glaubte, aber zu diesem Zwecke gern zu glauben probiert hätte, daß das, was er für Ahnung gehalten hatte, einfach eine Erschütterung seines Gedächtnisses darstelle, und daß er wirklich erlebt habe, was ihm erträumt schiene, er hätte sicherlich geschluchzt und mir geradeheraus gesagt, das hätte er auch gewußt und er hätte es mir ebensogut sagen können, jedenfalls sei es eine Plattheit von mir und er brauche sich das nicht bieten zu lassen. Denn ich fühlte, daß er sich mir gegenüber mit demselben Experimente trug. Im Grunde waren wir beide darüber einig, daß wir jeder dem anderen Selbsttäuschungen zutrauten. Auf diesem Wege mußte ich zu dem Schlusse kommen, daß Slim sich doch etwas ungemütlich fühle. Denn es war nicht ausgeschlossen, daß der Auftritt und die Ermordung Rulcs vor seinen eigenen Augen stattgefunden hatten. Nun war dieser Umstand für einen Menschen wie Slim von keiner tragischen Bedeutung. Unheimlich war allein das Seelische an der Sache, diese seltsame Unklarheit der Erinnerung, gewissermaßen eine Erscheinung von Gedächtnisschwund, ein Irrsinn, eine Bewußtseinstrübung bei intakter, ja vielleicht gesteigerter Denkfähigkeit. Aller dieser Zweifel konnte Slim zum Beispiel überhoben sein, wenn er geradewegs auf mich zuging und frug: »Sagen Sie doch, Johnny, sind Sie an diesem Abende, wissen Sie, diesem hellen Abende vor unserem Abmarsch nicht in der Savanna gewesen?« Worauf ich ihm, der Wahrheit gemäß und mit teuflischer Berechnung gesagt hätte – das konnte er sich an den Fingern abzählen – »Ja, lieber Slim, wo haben Sie denn Ihre Gedanken? Ich will nicht indiskret sein, Sie verstehen. Aber ich habe in jener Nacht zwei Männer hintereinander aus dem Farn kommen sehen. Dies war kurz nach dem Seufzer Rulcs, kurz nach diesem stumpfen Metallklang, der mir so schrecklich[180] im Ohr haftet, und nach dieser Szene – das alles spielte sich ja so rasch ab. Einer jener Männer waren Sie. Erinnern Sie sich, Sie haben weggesehen, und haben damit gleichsam ein Zeichen gegeben, daß Sie nicht erkannt sein wollen. Die Folge davon ist, daß ich auch wirklich nicht genau hingesehen habe; vielleicht ist es auch van den Dusen gewesen; aber den hatte ich schon vorher am Rückweg gesprochen. Vielleicht aber haben Sie doch recht. Dann ist das alles nur unsere Einbildung; wir suggerieren uns das auf eine Art, weiß der Teufel, wie wir beide in diesen Zusammenhang kommen. Das ist Ihnen doch nicht sehr angenehm?«

Auf diese Weise konnten wir beide einmal ins Reine kommen. Nicht über die Tatsache, denn die war schlechterdings nicht festzustellen, ja destoweniger festzustellen, je strenger unsere Gedanken im Akkord abliefen. Aber dieser Akkord selbst war noch zu beweisen. Es war nicht unbedingt nötig, ihn durch eine Aussprache zu realisieren. Der Glaube an ihn war ohne sinnfällige Mittel für uns beide erwiesen. Aber ich hatte das Bedürfnis, Slim bei mir in Audienz zu empfangen. Er und ich stellten ja eine Panik dar. Es wäre schön von ihm gewesen, wenn er sich Gewißheit darüber verschafft hätte, aber ich roch genau, daß er Furcht davor hatte. Ich meinerseits fürchtete mich, ihn dafür zu verachten, ich hatte begreiflicherweise überhaupt Angst vor allen Gefühlen, die sich auf ihn bezogen. Denn sie mußten alle Gefühle vermehren, denen ich selbst Gegenstand war. Möglicherweise war dieser Gedanke aber schon nicht mehr Ursache, sondern Folge. Slim hatte ihn gewiß schon vorausgedacht. Seine Blicke wurden immer problematischer. Ich bemerkte bei aller Antipathie, die sich darin gegen mich auftat, einen Schimmer von Schwermut. Ich habe solche Blicke sonst nur bei Wahnsinnigen gesehen. Und da kam mir ein Gedanke: es war eine Art gegenseitigem Verfolgungswahnsinns, unter dem wir litten. Wir waren auf der Flucht. Wir ließen unsere seelischen Schnittpunkte zurück, wir strebten mechanisch Raum und Zeit zwischen uns zu legen, wir suchten durch Entwickelung voneinander loszukommen. Aber an jenem Punkte, dem gemeinsamen Traume, an der Leiche Rulcs, deckten sich unsere Wesenskerne nach wie vor. Unsere Gehirne lebten wie die siamesischen Zwillinge, sie haßten sich, aber sie waren so gleich wie ein Ei dem anderen. In der Wut dieses Schicksals sah ich Slim mit verdoppelter Heftigkeit vorwärts eilen. Es schien, als wolle er fliehen, fliehen vielleicht vor mir. Da kam Berserkerstärke über mich. Ich war nach dieser Seite hin nicht nur der[181] Gebundene. Ich war auch Anteilhaber an einem größeren Betriebe. Ich sah meine seelischen Kräfte auf Slim überströmen. Jetzt war auch er nicht mehr allein vor sich. Auch ihm sah jemand bei seiner Seelentätigkeit zu. Wir entwickelten uns wie eine Lawine, wir multiplizierten uns gegenseitig in unendlicher Reihenfolge. Wir flohen, aber wir flohen nicht allein innerhalb des Lokales, wir flohen vor einem überreizten und gleichsam sich schuldig fühlenden Denken. Wir hatten die brausende Empfindung zeitlichen Ablaufs, des Denkens. Aus dem Raum, dem fühlbaren Raum in Gestalt eines dickichtverschanzten dicken Waldes in die streckenlose Zeit! Der Raum wurde von uns entführt. Wir schleppten den Raum.

Es war ein Wort Slims: Wir schleppten den Raum und liefen Sturm wider die Zeit. Wir lebten uns widereinander, lebten uns jeder wider sein eigenes Leben. Wo begann es, wo hörte es auf? Wo war Wirklichkeit und wo Einbildung? Gewißheit und Zweifel waren behoben. Die Gesichte bestanden für uns nebeneinander. Slim schlief, aber als Nummer zwei war er unterdes zugegen und ließ es zu, daß Rulc von Zana erstochen wurde. Wie ihn das quälen mußte! Ungefähr wie es mich quälte, diese unermeßliche Leere meines Gehirnes an einer wichtigen Stelle des Begebnisses. Denn es quälte mich, um es kurz zu sagen, daß Rulc auf so sonderbare Weise erstochen worden war. Ich fühlte eine geheime Schuld, daß ich förmliche Anklagen gegen meine Gefährten träumte, gerade als gebrauchte ich Ausreden über ein Verbrechen, das ich heimlich und unbewußt selbst begangen hätte. Alles war so merkwürdig klar wie etwas Ausgeklügeltes, ausgenommen dieser eine Punkt, der Todesstoß. Es bedeutete einen glücklichen Anhaltspunkt für meine Logik, daß ich niemals im Besitze einer besonders dünnen, verschliffenen Machetta war. Denn manchmal hatte es mir scheinen wollen, als wäre jene Traumgestalt, die ich in ihrem waffenstarrenden, komischen Aufzuge van den Dusen nannte, eine Transformation gewesen. Was es war, konnte ich nicht sagen; aber es war damals eine tiefe, selbstquälerische Unruhe in mir.

Aber dies alles war vielleicht wirklich nur eine allzu genaue Probe auf ein abstraktes System, das die Tropensonne in uns ausgegoren hatte. Hatte man's nicht schon erlebt, welche grotesken Ordnungen und Mechanismen sie im Gehirn des Orientalen zeugen konnte? Welche rhythmisch und tief geklügelten Fiktionen, welche mathematisch und equilebristisch richtigen Gebäude von Trugschlüssen üppig aus ihrer Hitze quollen und aus Entbehrungen und Strapazen,[182] wenn die Nerven arischer Menschen ihnen ausgesetzt waren? Zeit und Raum waren, um mit Slims Worten zu sprechen, für uns nur Skelett, Technik, um zu unserem eigenen Leben, dem Widersinnlichen und Unsinnlichen, zu kommen. Indem wir eine saftige Bresche in den räumlichen Widerstand des Waldes schlugen, eroberten wir die fünfte Dimension. Unsere Indianer krabbelten über das Leben wie über ein Laken. Denn der rote Mann hat den Raum nicht, das Gleichzeitige vieler Flächen. Er bewegt sich ewig in der Wagerechten. Man sieht ihn wie ein Tier mit der Stirn vorausrennen. Er beugt den Kopf in den Schultern. Das ist der Energische, der Geradewegsmensch, der geistlose Tatkräftige. Er fühlt die Zeit nicht wirklich, das Gleichzeitige vieler Räume. Er ist nicht zugleich als dieser und jener Typus auf der Welt, ohne Breitegrad und Erstreckung, und er hat den Gedanken nicht, das Gleichzeitige vieler Zeiten. Wir aber sind im Gedanken! Für uns ist die Realität, ein Urwald zum Beispiel, eine Kleinigkeit: wir bewältigen sie linker Hand, wir ministrieren sie a latere, wir erschauen sie aus einer Perspektive (da es sich als wesentliche Erleichterung zeigt). Wir sind die Söhne der fünften Dimension und zwei ist eins, und eins ist hier zwei. Alles zerfällt zu seiner Gänze. Vorwärts, schwinget die Machettas, durch, durch, durch ... da, durch diesen Busch – ah, durch!

Am siebenten Tage spüren wir eine Veränderung. Etwas in der Luft ist verändert. Das Tastgefühl unserer Hand reagiert darauf gleichsam wie auf ein mattes Tönen. Dünneres liegt in der Atmosphäre. Wir atmen die Lichtung.

An den Abenden, wenn die große, schwebende Unruhe des Waldes unsere Arbeit plötzlich abstellt, sinken wir müde am Lagerfeuer nieder. Zana, die nie spricht, sieht träge und ohne einen Finger zu rühren, zu, wie unsere Indianer die Mahlzeit rüsten. Wir essen schweigend, niemand erfreut sich ihrer Gunst. Aber wenn sie tanzt, plötzlich aufsteht und vom Flecke weg tanzt, während wir rhythmisch in die Hände klatschen, dann sieht sie nicht etwa mich oder Slim oder Checho an: aus einem unbegreiflichen Grunde hält sie sich an den Dutchman, der wieder mager geworden ist und unter der Hemdbrust und an den Gelenken sein rosenrot gegerbtes, haariges Fell sehen läßt. Er ist mürrisch und widersetzlich in seinen Meinungen, wenn wir, Slim und ich, unser Dimensionensystem feststellen und ausbauen. Wir sprechen dann in deutscher Sprache weiter, ohne ihn zu berücksichtigen. Slim behauptet, er könne manches derlei nur deutsch sagen. Zana tanzt im Feuerschein ihre primitiven Tänze, ohne großartige Figuren, aber mit[183] edlen, praktischen Bewegungen, idealisierten Bruchstücken ihrer Alltagserfahrung, und mit stark physischer Einbildungskraft. Das Repertoire ihrer Hingabe ist nicht groß. Aber immer wieder entzückt sie durch eine neue Idee, durch eine neue, schlagende Zote, die ihr gottesdienstlich vorkommt, von dem Holländer aber mit Grinsen aufgenommen wird. Sie deutet Liebesberührungen an und schüttelt ihren Kindschoß. Slim schlägt sie, sie streiten, dann kauert sie sich verschüchtert zum Feuer und starrt in die Glut. Wir alle möchten sie schlagen.

Die Ermüdung zwingt uns bald in den Schlaf. Plötzlich erwache ich vom Ohre her. Ich habe brünstige Laute vernommen und finde, daß meine Augen naß sind. Mein Herz brennt. Ich habe keine Scham, in dem großen, verschluckenden Walde bin ich vor der Scham versteckt, aber dünne braune Glieder, die ein anderer besitzt, sind meinem Fleische ein Stachel. Ich bin aus Eifersucht erwacht, mein Gehirn hat sich die Laute gemerkt, mit denen meine Sehnsucht umgeht. Ich sehe zu dem Himmelsausschnitt empor und fixiere einen Stern. Er sollte herabfallen und das Paar zermalmen. Ich knabbere mit den Augen an ihm herum, ob er sich nicht loslösen lassen wolle. Und siehe da, plötzlich spüre ich es lau in meinem Munde und meine Kaumuskeln sind gleichsam befreit, und eine Sternschnuppe segelt über das Firmament. Ich habe sie ausgehaucht, mein Atem ist feurig von verhaltenen Küssen. Wie eine laue Kugel quillt meine Sehnsucht mir aus dem Munde, da höre ich mich seufzen. In diesem Augenblicke werde ich gewahr, daß das Band zu Slim gerissen ist. Ich fühle mich allein, bin eine gesunde Persönlichkeit mit bohrendem Lebenstrieb. Und gleich darauf erledige ich die Angelegenheit ein für allemal. Hier unter diesem strahlend guten Himmel, mit der Brunst eines Raubtieres im Herzen, kommt mir das Gedächtnis wieder. Ich gebe jetzt zu, daß ich mich noch immer irren und meine Meinung wieder ändern kann. Aber entweder habe ich bisher überhaupt nicht gelebt, dann ist alles nur ein Traum gewesen, oder es muß stehen bleiben, daß ich diesen Atem zweier Menschen, genau diesen selben Atem, schon einmal gehört habe. Dann habe ich mit Slim ein Erlebnis, keinen Traum gemeinsam, und nichts bindet mich an ihn. Und ich habe und habe sie gehört: in jener Nacht vor dem Aufbruche!

Sofort spürte ich mich in einem Zustand der Schwebe. Eine übernatürliche Grelligkeit umgab mich. Es war, als ob ich den Ballast, den ich im Kielraum meiner Seele verstaut hatte, verlöre, mein Empfindungsleben war von einer überraschenden Wachheit und Lauterkeit. Der geringste Ton und die unbestimmteste Farbe berührten[184] mich mit süßer Macht. Es war die ungestillte, schmerzlich gesteigerte Sehnsucht, die mich zart machte. Ich befand mich in einer exaltierten Wonne, regte mich nicht, sah mit ungeblendeten Augen gerade vor mich hin. Ich hörte ein Schnauben, einen starken Luftzug aus einer Nase und erkannte Slims Atem wieder. Ich hörte einen unbestimmten, schluchzenden Ton, es war Zanas Liebesschrei. Der Schmerz über das fremde Glück erregte in mir eine scharfe Hellsinnigkeit. Außerdem machte ich noch folgende Entdeckungen.

Das Feuer fraß an einem frischen Stück Holz, ich hörte wie seine lange, gewundene Sägelippe mit den winzigen Zähnen jede einzelne der grünen Zellen in sich kaute. Es war das Zischen tausender kleiner Zähne, die an der Arbeit waren. Zugleich war ich von einer übernormalen Empfindlichkeit für einen Vorgang zu meiner Seite, den ich nicht genau sehen konnte, weil ich mein Auge nicht aus der Richtung des Himmelsausschnittes herausdrehte. Dieser Vorgang spielte sich auf einem stark verästelten Baume ab, der von anderen Bäumen teilweise verdeckt war, und war eigentlich unbedeutend. Der Baum aber war so außerordentlich geformt und zeigte innerhalb seines Systems eine so unerwartete Bewegung, daß sie mich von ihrer schiefen Richtung her förmlich faszinierte. Die Konvulsionen schoben sich rhythmisch weiter. Ein grüner Schimmer, intensiv wie Kathodenstrahlen, füllte den oberen Raum, und hier breitete sich eine knorrige, aus Knien und Gelenken gestückelte Palmenart aus, zwischen deren Gliedern ein lebendiges Riesengedärm in Knäueln hing. Die unendlich langsame Faltung, die daran emporzitterte, schien aus dem Nichts zu kommen und in das Nichts zu münden. Das Ding war stark wie ein Mannsschenkel und prall wie ein voller Balg aus grüner Seide. In dieser Selbstfortpflanzung eines Lebewesens war die Grundsensation, die Einheitsanschauung des Wortes »rücken« gekennzeichnet. Dieses Tier war bloßer Rücken, fiel mir ein, seine Bewegung, sein Leben war analysiert im Ruck, durch Serien von Chocks, sie waren ihm zugleich Fortbewegung und Verdauungsleistung. Als ich eine Zeitlang, die ewig schien, aus einem Teile des Gehirnes dieser Bewegung gefolgt war, kam sie mir erst in einem Wetterbruch von Gedanken klar zu Bewußtsein. Ich bemerkte jetzt in einem das grünfalbe Licht, das aus seinem Innern auf das Tier strahlte und in dem Sternenreflex unterm Laub eine sachliche Begründung erfuhr, ferner ebensowohl die sensationelle Langeweile des motivischen Ruckes und einen plötzlich als Zweck der Bewegung vorgestemmten Schlangenschädel. Der Schädel war flach und wie eine Faust um die kalten,[185] grünen Augen geschlossen. Da fühlte ich, wie von einem unsichtbaren Drahtfaden zwischen den Augen des Tieres und den meinen die grüne Strahlung ausglühte, die von den Sternen herzurühren schien. Die ankerförmige Zunge, scharf wie eine gespaltene Locke, wurde von den gasigen Stößen aus dem Innern in rasender Perpendikulation gehalten. Sie schmeckte den brenzlichen Geruch des Feuers und schnellte zurück, gleich darauf legte sich der Kopf treu und lotrecht an den Stamm und der Marsch nach oben begann.

Das Tier kannte den Raum nicht. Es marschierte buchstäblich mit der Stirne am Boden, es war imstande, sich wie ein Balken über einen Abgrund hinzurecken, sein Medium war allenthalben die Fläche. Dieser lange, langweilige Muskelsack überwältigte die Schwerkraft, oder, was dasselbe bedeutet, er kannte sie nicht. Von dieser eigentümlichen, ungereimten Beobachtung fiel eine Lehre ab. Der Raum ist ein Produkt der Erkenntnis der Schwerkraft. Je mehr Schwerkräfte im Leben, desto hochartiger die Verräumlichung und Dimension. Das Tier kannte nicht die Zeit, vielleicht starb es nicht, starb nicht im menschlichen Sinne. Denn der Tod ist die Schwerkraft innerhalb der Zeit. Durch ihn erst, durch den Widerstand und die Verneinung, wird die menschliche Zeit. Denn erst was wird, ist erkannt. Es wird durchs Erkanntwerden. Die Sensation der Schwerkraft ist eine Schwächung und Fähigkeitsminderung, aber Hemmung schafft höhere Dimension. Erst durch das Dawiderdenken entstand das höhere Denken, mit dem Tode des Gedankens nähre ich ihn höher, in der Schwerkraft einer Realität beschwinge ich die nächste. Meine Sicherheitsfähigkeiten, meine Stabilität sind vermindert. Aber meine Erkenntnis ist gemehrt. Für jeden Schwindelanfall gewinne ich mir eine neue Dimension ein. Für jede Direktion, auf die ich im Leben verzichte, erhalte ich eine Perspektive. Ich kann nicht mit meinen Haaren gehen und mit meinen Flanken bergab an einem Baumstrunk kleben. Ich muß Verzicht leisten auf diese einfachen Kräfte und Genüsse. Der tierische Kopf ist ein Wegweiser nach vorne, immer zeigt er nur in die Horizontale. Der Kopf des Menschen aber ist eine Pfeilspitze nach oben, hinaus in den unendlichen Raum, und deutet an, daß die lanzenschädligen unter den Menschen die menschlichsten sind, die Gotiker, die Hochbaurassen. Die Erde ist rund und ein Raum und eine Rückkehr, und wenn man ganz weit gekommen ist, ist man wieder dort, wo man ausging. In der Erde als Raum ist der Widerspruch ausgesprochen, und gewiß ist sie kein Servierbrett zu Fraß und Sumpfglück. Ich bin abgekommen von[186] meinen früheren Sentimentalitäten. Lasset Tieren und Wilden ihre Glückseligkeiten. Sie liegen sicher in uns aufgestapelt. Um den Baum des Gekröses ringelt sich konvulsivisch die Darmschlange, führt ein dummes, seliges Leben auf einem Seitenaste der Entwicklung. Am Ende bist du eine Abnormität, ein Auswuchs von einer Schlange, der es schlecht gegangen ist, und die es weit gebracht hat. Auch den Wilden trägst du in dir, den Paniker, den Typus mit der Duplikatseele, die in jedem das Gleiche träumt und einen Gottpfahl lächerlich gemeinsam beschwingt. Ich aber bin davon abgekommen; in diesem Augenblicke bin ich davon abgekommen, weiß Gott, welche Einbuße ich hiermit wieder erlitten habe, welche neue Schwere mir die Anmut beeinträchtigt, und was ich habe zahlen müssen für diese Sekunde der Erkenntnis. Ich bin wieder Ich selbst, ich habe mich gefunden, ich hänge meine Sentimentalität und Tropenschwärmerei an den Nagel. Denn ich halte es mit Schwerkraft und widersprüchlichem Denken. Gute Nacht, Slim, es wird dir auch wohltun, daß diese Geschichte jetzt zwischen uns erledigt ist. Ich gebe dich frei. Schlafe du mit Zana – ich liege hier und darbe, ich verbrenne mein Herz wie einen Ketzer, ich leide, wenn andere braune Glieder lieben, aber ich schaffe mir Gedanken und modle Leid in Lust. Lüget nicht: Das Gehirn ist kein schlechterer Mechanismus als die Natur selbst. Ich bin jetzt fürs Gehirn eingenommen, ich gebe mich mit aller Leidenschaft dem hin, was am notwendigsten ist: Schwerkraft, Tod und Verkehrung! Werdet schwerer, mordet die Realität und tut ewig Buße um eure Gedanken, kehret um und kehret euch wider euch in euren Gedanken. Vertite, vertite, anachoreite!

Die grüne Schlange löste sich aus ihrer Verstrumpfung, der Knoten streckte sich zu einer langen Linie. Ich fühlte mich einsam und klar, inmitten der zartesten Lebensvorgänge von greller Auffassungsgabe. Drüben bei Slim und Zana war das Geflüster erstorben. Ich wandte den Kopf nicht. Kaum spürte ich das hämische Nagetier der Verliebtheit, das auf meinem Magen hockte; ich fütterte es mit den spirituellen Gluten selber, die mir das Grauen vor ihm erweckte, und machte es zutraulich. Gequältes Herz macht scharfen Sinn. Meine Gedanken waren von Slim befreit, sie lebten nicht mehr mit den seinen in einer Symbiose. Ich vermochte klar und einsam zu denken. Während die Riesenschlange tastend ihren ungeheuren langweiligen Kreuzzug fortsetzte, schlief ich ein.

Am nächsten Morgen erwachten wir gut. Ich traf auf die Augen Slims, der glücklich und froh erschien. Er reckte sich und sagte freundlich:[187] »Nun, heute ist ein guter Tag. Sie fühlen sich wohl recht frisch? Heute kommen wir an den Strom, jawohl!«

Hurra durch! – am achten Tage kam es heraus, daß der eigentümliche Gehalt der Atmosphäre Töne waren. Die Luft in dieser Gegend mußte damit gleichsam chemisch gesättigt sein. Die Vibrationen waren vielleicht ungeheuer kleine Bestandteile. Unter Qualen der Erinnerung kam es mir zur Gewißheit, daß ich dieses Phänomen bereits einmal vorausgeträumt haben mußte. Irgendwann ... Richtig, das war wieder jener problematische Traum vor dem Aufbruch. Seine prophetische Art machte mich unruhig. Es war also möglich, daß man zu Erfahrungen, die nachkommen, das Schulbeispiel, das Prinzip vorausträumte? Wie mächtig war der Geist! In diesen Stunden harter Gedankenarbeit, während wir uns durch den Djungle hindurchschlugen, begann ich an ein Schicksal zu glauben. Wir haben so und so viele Leiden und Leidenschaften zu erschöpfen – woran wir sie erschöpfen, bleibt gleichgültig. Hier tritt das Phantoplasma, das innere Gesicht in Kraft.

Bisher hatten wir uns, Zanas Orientierungssinn vertrauend, parallel zum Flußlauf gehalten. Manchmal waren wir auf ihn gestoßen, wenn er uns ein Knie oder eine Schlinge vorgelagert hatte. Dann waren wir so knapp als möglich ausgebogen. Und nun hörten wir ein Brausen. Zana verkündete, daß es die Wasserfälle seien. Obwohl wir uns dem praktischen Ziel dieser Reise gegenüber ziemlich skeptisch verhielten, überfiel uns doch eine kleine Unruhe. Wie, wenn wir wirklich auf ein altes spanisches oder portugiesisches Lager träfen? Der Fluß weitete sich zu einem Trichter. Seit zwei Tagen waren wir, langsam vom Hochplateau dieser Region abfallend, ins Gebirge gekommen. Hügel bildeten, Täler vertieften sich; das Plateau franste in Höhenzügen aus, schob wie ein Wurzelblock Ausläufer und Füße voraus. Der Lauf des Flüßchens war steiler geworden, jetzt stauten sich seine Wasser und wurden grünlich und träge. Um die Mittagsstunde, als die Sonne sich im Zenith befand, waren wir an unserem Ziel.

Das Gestirn lag mitten in einem glatten Spiegel wie eine ovale strahlenlose Scheibe. Die Reflexion des Wassers zog sein Bild auseinander. Zweihundert Schritte unterhalb der Einmündung unseres Flüßchens in das größere Wasser war ein natürliches Wehr von Felsblöcken abgetürmt. Das hurtig gewordene Wasser eilte mit großen Bauschen in drei verschieden breiten Bändern darüber hinaus und fiel etwa vierzig Meter tief in einen brodelnden felswimmelnden[188] Tümpel hinab. Das mittlere der Bänder war das größte; wie eine ungeheure schimmernde Walze drehte und drehte es sich vom Scheitel herab und lud weiße Gischtmassen in das Becken ab. Der Fall sah nicht hoch aus. Aber die Wasser hatten guten Schwung. Wir warfen einen Blick in das Becken. Wer in diesen Fall geriet, war gerichtet. Er mußte mit zertrümmertem und ausgedrehtem Körper unten landen.

Unter Zanas Führung machten wir uns sogleich an die Arbeit, ohne zu rasten. Das Band der Wasser war zweimal von je einem breiten natürlichen Felsobelisken zerschnitten. Er biß wie ein großer Zahn in die Flutmassen. Auf der flachgespülten flußabwärts gekehrten Seite waren mit plumpen Werkzeugen Figuren in den Stein geritzt. Sie stimmten ungefähr zu denen, die Slim auf einem Ziegel vorwies, den er mit sich führte. Sie stellten das topographische Erkennungszeichen dar. Eine Weile sahen wir den täuschenden Drehungen der Riesenwalze, dem ewigen glatten Gleiten des Wasserfilms zu; dann sprangen wir von Stein zu Stein und traten, wo über uns der Steinobelisk das Wasser abhielt, hinter den milchig durchschienenen Glast ein. Wir waren jetzt in einer Höhle, die durch das schräge Zurückfallen der Wand entstand. Über uns und vor uns rollte der hautige Vorhang vorbei. Ein Donnern, das jeden anderen Laut erstickte, splitterte im Raum – er war leer. Nur hie und da hockten schnittige Blöcke, über die wir klettern mußten. Feuchtigkeit tropfte in Rinnsalen an der zackigen Wand entlang. Da haben wir uns stumm und mit Bosheit in den enttäuschten Mienen angesehen. Wir schämten uns voreinander. Slim stand spreizbeinig auf zwei Steinen und öffnete und schloß abwechselnd den Mund. Er sah sonderbar aus. Plötzlich ging es mir ein, daß er lachte und sprach. Indes war kein irgendwie deutbarer Laut zu vernehmen.

Wir alle standen im Halbdunkel mit verstiegenen Haltungen da, hielten uns gegenseitig Reden und wirkten so aufreizend auf unsere Lachlust, daß wir in ein fürchterliches lautloses Prusten und Brüllen ausbrachen. Die Felsenecke war von einem feinen Wasserstäubchenregen umsprüht. Elemente von Regenbogen hielten sich eine Weile in der Luft auf, wurden Augenblicke lang gleichsam materiell und verschwanden plötzlich, wenn die Dichtigkeit des Wasserschleiers in einem rhythmisch wiederkehrenden Verhältnisse ab- und zunahm und den eindringenden Lichtschimmer nach Graden abblendete. Ein apfelgrünes Licht beherrschte den Raum. Die Situation, die derart geschaffen wurde, war äußerst merkwürdig. Sie wurde gespenstisch, und ich sah es an den verdutzten Gesichtern der anderen, daß sie ihnen[189] nicht geheuer war. Wir bemerkten an unserem Wesen sofort einen Abzug. Irgend etwas an uns war weggegeben, wir fühlten uns getragen, ein wenig entkörperlicht. Die Wirkung war die gleiche, wie wenn hier herum irgendwo eine Quelle von Lustgas ausgeströmt wäre. Wir fühlten uns außerordentlich wohl, aber vergebens suchte mein Gehirn gegen das Aufgedrungene dieses Zustandes anzukämpfen. Das Lachen in meiner Kehle war ein Element; die anderen lachten mit, Zana und selbst die würdigen Indianer schüttelten sich, wir alle bogen uns in unhaltbaren Stellungen umher. Aber zugleich lag etwas Beunruhigendes in dieser Erscheinung, das apfelgrüne Licht. Ich drückte das Gehirn zusammen, drückte mit den geschlossenen Augäpfeln tief nach rückwärts: Langsam rekonstruierte sich eine lange, grüne, sich emportürmende Schlange. Rings um sie war gehobenes Licht. In diesem Augenblicke befanden wir uns selbst schier gewichtlos in diesem Medium; die verlorene Hörfähigkeit hatte einen Gewichtsverlust zur Folge. Das Grün ging wie Kathodenstrahlen oder siderische Einwirkungen durch uns hindurch. Es war kein Licht, sondern eine fühlbare dichte Flut. In dieser Flut schwammen Regenbogenelemente, sie sanken, sie flossen und stiegen, sie waren tastbar, man konnte sie wie Strähnen durch die Finger gleiten lassen. Zana legte die Hand in ihr zartes Gewebe; geknickt und aller Prägung gehorsam floß es darüber hin. Die grünen Hauptstrahlen aber drangen durch uns hindurch. Sie hafteten nicht an der Haut, sondern brachen organisch aus dem Fleische hervor, sie gestalteten um, materialisierten den Körper neuerdings in einem zweiten Medium. Der Raum, den unsere Leiber füllten, entstand auf neuen Grundbedingungen. Ich erinnerte mich flüchtig, daß ich dieses Licht in einer Vision gleichsam aus meinen eigenen Augen hatte hervorbrechen sehen. Über diese Vorahnung erschrak ich, da es gleichsam von Bedeutung war für diese Höhle, in der sich die geeignete Stelle für ein Ereignis oder einen Anblick bot, deren Bild allerdings in meinem Kopfe noch nicht vorhanden war. Ich hatte die peinliche und törichte Empfindung, daß diese fortgesetzten Anspielungen meiner müßigen Träume schließlich doch einen Sinn besäßen, und dies war vielleicht der Grund, warum ich alles mit geschärften und halluzinierenden Sinnen aufnahm. Eine schleichende Veränderung ging mit uns vor. Wir wechselten Stoffe aus, bildeten die Strukturen um und traten an die Stelle duftigerer Wesen. Aber dieser Wechsel kostete unserem Bewußtsein ein taubes Schmerzgefühl, wir vermochten unser Entsetzen mehr oder minder nicht zu verbergen, und darum lachten wir, da wir in unserer rationalen Art den Vorgang[190] absurd fanden. Plötzlich beugte sich Zana vor und sah van den Dusen ins Gesicht. Es war apfelgrün, eine große apfelgrüne Aureole, lächerlich und lyrisch und in seiner Lyrik noch lächerlicher bis zum Schmerz. Diese Panik war ein höherer Grad von sich selbst, sie war Entsetzen. Es bemächtigte sich unser in einem tollen, widerstandslosen, verrückten Lachen.

Sonderbar war der Umstand, daß es keinem von uns einfiel, aus dieser Sphäre zu flüchten. Als Slim in einem Spalte eine Entdeckung machte, waren wir so betäubt, daß wir dessen gar nicht achteten. Was er emporhielt, mochte ein langes Stück Eisen sein. Es fiel mir ein, daß wir ja wegen des Schatzes hergekommen waren, und nun hatte Slim etwas in Händen. Mein Herz stand still. In diesem Augenblicke waren tausend Hoffnungen auf mich eingestürmt. Und obwohl ich felsenfest und unromantisch das Nichts erwartete, erlaubte ich mir in dieser Spanne Zeit dennoch wie der Delinquent, dem der Tod bestimmt ist, allerlei Kühnheiten. Slim hielt wirklich einen Augenblick lang ein Stück in die Höhe; dann begann es, ihn zu jucken, und er warf es weg. Unsere kleine Gesellschaft geriet in Bewegung. Und nun gewahrten wir nicht mehr und nicht weniger als ein Lager von altem Eisen. Es waren Gabelbüchsen von uralter Konstruktion, Helme, Panzer, Hellebarden und Lederzeug. Aber das Leder war durch die Nässe verfault und zu Asche zusammengesunken. Die Waffen und ein paar metallene Nutzgegenstände aus einem früheren Jahr hundert waren teils von wolkigem Grünspan gesprengt und überzogen; teils machte das apfelgrüne Licht eine pelzige Schimmelkruste, ein feistes Gewebe aus Grünspan aus ihnen. Es war kein Schatz. Die Besitzer dieser Gegenstände waren arme Teufel gewesen wie wir, Soldaten, Globetrotter, Erdteilentdecker und Schatzsucher wie wir. Das Gewaffen bestand aus schartigem Eisen, die Griffe der Schwerter und Degen bleckten skelettiert ihren einzigen langen Stoßzahn vor. Wir wandten dem freudlosen Anblick den Rücken, nachdem wir vergebens mit den Fußspitzen einige Unruhe und den Verfall in diesem Stilleben erregt und fette Moder- und Schimmelschichten entblößt hatten.

Die physischen Anstrengungen der Lachepidemie und die Inanspruchnahme des Bewußtseins innerhalb dieser Lichtexistenz entkräfteten uns. Wir bestanden in dieser Sphäre als Lichterscheinungen, wir waren lediglich eine Spezialität und Verdichtung des grünen Lichtes, das hier Herr war. Der Gehörsinn war ausgeschaltet. Das Tosen dröhnte so laut, daß wir unser eigenes fischgleiches Lachen nicht vernahmen.[191] Es war nämlich noch eine Überraschung zu verzeichnen. Unser Tastsinn und unser Gesicht verschmolzen. Licht und Materie wurden identisch und die Folge war, daß wir raumlos dastanden, gleichsam an die grüne Wand gemalt, plattgedrückt von der räumlichen Herrschaft des grünen Lichtes. Ich sah die anderen die Kiefer bewegen und mit Löchern aus grünen Masken schauen. Der Mensch war hier ein geändertes Wesen. Zanas Haare flossen in grünem Geringel auf ihre Schulter wie Nymphenhaare. Waren wir Symbole der Wasserwelt? Waren wir Typen von Wassergeistern? Unsere organische Heiterkeit machte unserem menschlichen Bewußtsein scharfe Mühe. Es war eine Dissonanz in unserer Anwesenheit und wir litten unter ihr. Die Indianer waren weniger ergriffen als wir. Bei ihnen gelang die Illusion. Da sie reine Physis waren, hatten sie nicht gegen die selbstherrlichen Kräfte des Gehirnes anzukämpfen. Das Problem der Mythologie war gelöst, der Undinentypus war gerettet. Zana lehnte sich leicht an van den Dusen. Da ging Slim plötzlich fort, er sprang über die klitschigen Klippen und verschwand in dem Riß des opalisierenden Wasservorhanges, der unaufhörlich von oben nach unten glitt, dröhnend und zitternd wie eine Stahlplatte.

Wir drängten ihm nach. Hier war der Spalt. Als wir draußen standen, ging ein Wechsel mit uns vor. Die sachliche Tageshelle, die uns umgab, war uns willkommen, nicht uns, aber doch einem gewissen Teil unseres Sinnes. Sie war seine Heimat. Wir erkannten uns mitten in der Sonne, mit dem zähen quecksilbernen Wasserfladen im Rücken, wieder. »Was war das?« frug der Holländer.

»Der zweite Leib!« sagte Slim. »Wenn man einmal den ersten vermißt, – kann man hier immer noch in der Reserve hausen!«

»Ach ja«, sagte ich, »gerade das habe ich mir auch gedacht!«

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 173-192.
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