IV

[28] Dies ereignete sich, dies und nichts anderes, bloße Gedanken, die eine große majestätische Langeweile gebar, als ich eines Tages an einem südamerikanischen Flusse unter einem dem Äquator ziemlich nahen Breitegrade, inmitten des Urwaldes, jenen Vergleich zwischen der sich aufdrängenden Natur und dem Geheimnis der Mütter anstellte. Würde ich meinen Zustand von damals erschöpfend zusammenfassen, so möchte ich ihn dahin ausdrücken, daß er jeden Humores bar war. Mit dem sauersten Fleiße, mit dem kostspieligsten Ernste stürzte ich mich in logische Unternehmungen, die sich kaum rentierten, aber ich wartete die Befriedigung der Voraussetzungen nicht erst ab, sondern ging ungehemmt weiter. Es war nicht eine Spur von Humor mehr in meiner Seele. Denn der Humor ist ein Geschöpf des Nordens und braucht das schlechte Wetter, die Veränderlichkeit und die Laune. Die launenlose Schönheit des Lebens, diese unvariable Größe des Südens, sind ihm ungünstig. Nur so ist der humorlose Ernst aller morgenländischen Philosopheme, vom Talmud bis zur Mahabharata und bis zur arabischen Schnörkellogik zu verstehen. Ich erfand Sitzungen wie ein maurischer Theologe, unverdrossen mischte ich Begriffe und Symbole wie ein blumiger Poet aus Farsistan. Die Backen waren dick vom Schweigen und ich verzog sie nicht mehr zum Lächeln.

Schuld an dem trug die unerträgliche Hitze; die Hitze und das Schweigen. Dieses Schweigen, dieses fürchterliche Schweigen – einmal lenkte sich meine Aufmerksamkeit wie von selbst auf den Umstand, daß auch die andern verändert waren. Slim sprach so gut wie nichts.[28] Van den Dusen hatte am ersten Tage Stichproben seines niederdeutschen Humors gegeben. Da aber niemand darauf einging, wurde er endlich seiner selbst müde und verblieb während dieser Zeit schweigsam. Er prahlte gerne und war auch sonst kein Muster an Wahrheitsliebe, das hatte ich schon heraus; aber er war gutmütig und bis zu einem gewissen Grade Gentleman. Jetzt brütete er wie wir stumpf dahin, seufzte gähnend auf und blieb mürrisch gleich Slim. Unsere vier indianischen Scouts unterhielten sich gedämpft und trocken in ihrem unverständlichen Dialekte. Von ihnen war keine Auffrischung der Gesellschaft zu erwarten. Ihrer zwei ruderten uns in einem langen torpedoähnlichen Kanoe, das aus einem massiven Baumstamm herausgehauen war, voraus; das beladene Proviantboot mit den beiden andern folgte nach. An breiten Stellen fuhren die Boote nebeneinander her. Ich spornte den Holländer zu einer kleinen Regatta an und wir versuchten das Boot mit den herzblattförmigen Rudern fortzutauchen, wie wir es von den Indianern sahen. Das Gewässer aber rebellierte in Schlammwolken, die sich unheimlich wie ein drohendes Gewitter von unten zusammenzogen, der Bootstamm begann zu rollen und Wasser zu fassen. Slim grunzte ein wenig mißmutig und wir gaben es auf. Dieses Gewitter, das sich unter uns gebildet hatte, erregte jedoch meine Phantasie. Plötzlich fühlte ich mich und meine Umgebung unwahrscheinlich; ich entäußerte mich spielend des Weltmittelpunktes, der in mir lag, ich begriff mit erkälteten Nerven die Gleichgültigkeit meiner Person und ihres Aufenthaltes: denn unter mir gab es eine Welt, die auf eigenartige Weise eigene Gewitter und Elementarereignisse erzeugte, wenn ein Mensch außerhalb ihrer Grenze nicht rudern konnte und ihren Gang störte. Vielleicht entstanden auch meine Gewitter, wenn ein fremdes Wesen ungeschickt war – wer konnte in diesem Augenblicke darauf schwören, darauf oder auf sein Gegenteil? Vielleicht konnte Gott nicht rudern? Aber wie gleichgültig war dann Gott, wie gleichgültig war jedes Ich, jeder Geist! Eine fröhliche somnolente Verlassenheit kam mich an, ich fühlte mein kniffliches altes Ich vergehen und löste mich in eine unendliche, von keiner bewußten Einheit zusammengehaltene Empfindlichkeit für das heftige selbstische Leben ringsherum auf. Weise wie ein alter Inder in die Einzelheit verloren, dem Ursein gewonnen, sah ich mit tausend Augen und verfing mich mit tausend Sinnen, die Gott besaß – und während all dieser Augenblicke wurde ich elend von Langeweile geplagt.

Der Müßiggang lag mir in allen Gliedern. Die Folge war, daß ich schlecht schlief. Wir landeten tagsüber nur, wenn es galt,[29] Mahlzeit zu nehmen, oder wenn wir vom Boot aus einen Vogel, der sich nur sehr selten einmal auffällig dem Visier bot und dann starr und farbenprächtig wie ein uralter Giftschwamm zwischen dem Laub saß, geschossen hatten. Des bloßen wohltuenden Lärmes halber durften wir unsere Munition nicht vergeuden, denn vor uns lag noch die ganze ungewisse Expedition, vielleicht manches Zusammentreffen mit Mensch und Tier, deren gefälligen Benehmens wir nicht sicher waren. Darum sparten wir unsere Jagdlust und unser Pulver und verzichteten auf einen Grund, ans Land zu gehen und uns Bewegung zu machen.

So wie die Sonne aber nicht mehr aufs Wasser selber schien, sondern die Waldspitzen in schrägem und scharfem Schnitt mit Kupferflammen entfachte, fingen wir an, die Ufer nach einem Lagerplatz abzusuchen. Der Instinkt der Indianer gab den Ausschlag. In diesen zehn Minuten, da die Sonne uns geradezu auf und davon lief, ging im Wald eine Veränderung vor sich. Hätten wir nicht selbst auf den flinken Einbruch der Nacht gewartet, die ozeangleiche Bewegung, die jetzt auf allen Seiten entstand, hätte uns allein als Signal dienen müssen. Im Laube rauschte es, das Rascheln pflanzte sich fort, siedendes Leben ergoß sich vom Tag zur Nacht, ein Heer von Schlangen schien auf dem Marsche; mißtönende Vogelstimmen schrien wie weinende Hunde durcheinander, verehrten und befehdeten sich mit köterigen Lauten. Mit einem Male zeigte es sich, daß ein eminentes Leben da war, daß die trügerische Stille eine wimmelnde Fülle tierischer Wesen geborgen haben mußte. Affennationen begannen zu hadern und zu keifen, brachen in die Haine eines fremden Stammes ein, zerknackten mutwillig die dürren Zweige. Vögel erhoben sich schlupfend zu einem kleinen Fluge über den Laubozean, um sich einmal kräftig von den Anstrengungen der Diskretion, die tagsüber in ihrem Beginnen wartete, zu erholen; war es Hohn, eine Manier der Genugtuung, als sie jetzt in einen fürchterlichen Skandal zusammenstimmten: eins war sicher, aus dem ganzen Phantom von prächtigen intensiven Farben, aus dieser ganzen aufreizenden Explosion einer Malerpalette drang kein einziger sympathischer Laut. Unten am Boden aber zogen die Echsen und Reptile los, ein widerliches Schleichen von tausend Leibern, die von warmen Sitzungen in Sonnenflecken sich zu vertrackten Löchern durchbohrten, behelligte das Ohr und wirkte bis in die Zähne: eine Vorstellung von kalten Muskelwesen, die an rissigem Holze entlang emporkrochen, bot sich an. – Da sank die Sonne, und schon hatte auch das Manöver geendet. Hin und wieder plumpste ein Katzenleib dumpf auf den Boden; hinter dem Feuerkranz, der uns gegen das Land und[30] den Djungle hin abschloß, fauchte es ärgerlich. Ein Puma krakeelte in langen Arien. Sonst war es still, wieder still, nicht ganz so still wie am Tage, aber doch still. Das Glucksen und Schluchzen des Wassers war deutlicher hörbar. Und zwischen dem Spalt überm Flusse stand der Himmel in weißer atmender Glut; eine Sternschnuppe fiel, sauste in der Nähe nieder, links da brach sie ein, man hält den Atem an – wird sie im tintenschwarzen Wasser verzischen?

Am Morgen, eine Viertelstunde vor Sonnenaufgang etwa, wird uns das gleiche Theater wecken; der ganze Wald schlägt dann Reveille. Bis dahin können wir ungestört schlafen. Zur Feuerwacht aber wechseln immer je drei ab während der zwölfstündigen Finsternis. Der, an dem gerade die Reihe ist, kann allerlei Beobachtungen machen. Er kann auf die Töne des Urwalds lauschen; es wird sich herausstellen, daß gewisse Geräusche immer wieder nach denselben Intervallen auftauchen. Ein bestimmter Rhythmus beherrscht alle Äußerungen dieses wilden Lebens. Ein Raunen hebt sich, schwillt ab. Eine große Brust atmet, ein geräumiges Schnarchen rollt vage in das blaue Fieber des Sternenraumes hinaus. Pan liegt am Rücken, er verschnauft und träumt lebhaft. Wer ist dieser Pan? Ist er ein Wilder, ein Indianer, ein griechischer Literat aus einem sokratischen Kaffeehause und mit einem Nasenfehler? Es fällt mir auf, daß von den sechs Schläfern zu meinen Füßen ein vereinzeltes Schnarchen ertönt. Ich muß doch nachsehen – es ist der Holländer. Er liegt schwer am Rücken. Ich sehe zu den Indianern hinüber, diese krümmen sich auf den Bauch, auf ihre Lenden und Schulterknochen. Zorre, der Fünfziger, liegt auf der Seite. Er allein atmet unrein, die Luft bricht sich an seinen alten Knorpeln, seine Organe sind nicht mehr glatt und geschmeidig. Die andern mit ihren schmächtigen und zähen Gestalten liegen da wie große Kinder, und so wie sie sich ausgerenkt und verdreht an die wohltuende Lagerstatt drücken, sehen selbst ihre männlichen Formen noch kindhaft aus. Ihre Beine sind von der erlesensten Magerheit, dünn, unbehaart, kupfern; nicht weit unter der Kniekehle haftet eine wunderschöne Muskelschnecke. Eine Prima-Ballerine her, sie möge Fußpflege lernen! Um wieviel gebrechlicher mögen diese Gelenke sein als das Schock Laternenpfähle von der Wiener Hofoper! Und doch tragen ihre Besitzer, wenn's sein muß, kleine Berge. Wenn nun alle Knöchelchen und Wirbel so zierlich sind, dann muß freilich die Puste wie geölt gehen. Die Organe sind klar gemacht zum Gefecht. Der große Balg über den Schenkeln wird nicht vom Fett gesteift und gedrückt. Die Eingeweide liegen gleich unterm glacéledernen Fell und[31] bilden, wenn das Nachtmahl sie gefüllt hat, einen legeren Ballen. Dort aber streckt Mynherr sein Bäuchlein wie eine Fußballdose in den gestirnten Himmel, er liegt habtacht auf den Schultern, mit soldatischem Rücken, sein Kinn hängt wie eine geöffnete Zugbrücke in den Scharnieren, während er aus einem Brustkasten, in dem scheinbar drei Indianerlungen Platz hätten, einen Herbststurm nach dem andern herausbefördert.

Wer die Wache hat, hat das Wort. Er kann beobachten. O diese schwellenden reifen Nächte, über denen das südliche Kreuz steht! Der Nachtwind, der zwischen Wassern und Wäldern wandert, ist herb und sauer vom Geruch zerstampfter Blätter; aber plötzliche süße Wellen zucken aus einem großen Strauch und steigen auf zu einem flimmernden kleinen Stern! Das Blut strömt lau und schwer wie Quecksilber in die Schläfen – da ist es vorüber, die Schläfer seufzten verzückt im Traume, sonores Behagen dankt schöpferisch im Walde! Slim hat sich geregt! Sein Gesicht liegt gelb im Schein des Feuers, seine Nüstern haben leise gezittert. Vorsicht! Schlauheit! Die Macht der Beobachtung liegt in meinen Händen, kann ich den Feind listig ahnen, jetzt, da alles Leben geoffenbart vor mir liegt? Ist er mein Feind, dieser Slim, ist er mein Freund, mein Bruder, deute ich seine Seltsamkeit recht und billig wider mich, für mich? Wer ist dieser Slim, ein Gaukler, ein Mensch, ein Wilder – eine raffinierte und beherrschte Gehirnmaschine der letzten Rassen, oder ein brutaler Lebensinstinkt mit dem Blut von Urmenschen in sich? So wie Slim daliegt, ohne Muskelanspannung, indianisch, mit dem vollendeten Verständnis zu ruhen, ist er der Sohn seiner Mutter mehr als der seines Vaters. Die Kreolin hatte ihm dunkle Herkunft vererbt, eine knochige Wildheit aus dem Innern Amerikas in den Zügen, dunkles, rotes und vielleicht schwarzes Blut unter der gelben Haut und tiefsitzende Manieren, Liebenswürdigkeit und Herrschsucht im gleichen Wink. Was gilt die Wette, sie war nicht eben eine reine Kastilianerin?

Slims Schlaf ist unruhig. Er hat vielleicht einen schlechten Magen, das gewöhnliche Erbteil eines nordamerikanischen Vaters. Je länger ich nachdenke, desto seltsamer beginnt es mir mit Slim zu ergehen. Ich denke nach, und Slims Person fängt an zu wachsen. Er ist unheimlich wie ein Mörder, lächerlich wie ein Dichter, sympathisch wie ein Spießbürger. In meiner schwachen Stunde, da ich ihn so kraftvoll, so eingewohnt, so überalldaheim auf diesem Boden hingestreckt sehe, der nur zur Hälfte der seine ist, zur Hälfte ihm fremd und stets ein wenig feindlich sein müßte, wie mir, in dieser meiner schwachen[32] nachdenklichen Stunde wächst sein Geist hinaus und ich sehe das Prototyp des zukünftigen Menschen vor mir, bekannte Züge, Eigenschaften aus einer modernen Kultur, eine zerebrale Spannung, gemischt mit der eigentümlichen Relaxation des Urmenschen. Dann seufzt er auf, wirft sich herum, irgendeine Wut scheint in seinem Körper zu toben; und in diesem Augenblicke, da er gewöhnlich wie ein Landstreicher wird, kann ich ihn bedauern, meine Hochachtung sinkt und ich mache ihm Vorwürfe wegen seiner amerikanischen Dyspepsie. Eines Nachts, während ich die Wache hatte, sprang er auf, sah mir mit einem schlaftrunkenen Blick ins Gesicht, legte sich hin und schlief weiter. Oft ist er mir das Symbol der Sympathie, die ich als Weißer für diese wilde Welt rings um mich her empfinde, bald ist er ein zuwiderer Mensch. Er ist ein Ausdruck von durchaus gemischten und unaufgeklärten Gefühlen. Die warme träge Nacht stimmt mich milde, ich vergebe Rücksichtslosigkeiten und bin für das Große. Also votiere ich für Slim, Slim soll leben und es gut von mir haben. Meine Augen schweifen von ihm ab und hinüber über die Schar. Als sie den jungen Indianer treffen, erschrecken sie plötzlich und laufen davon, schnell, nach der andern Seite. Er ist schön und ich weiß nicht, warum ich erschrecke. Eine Empfindung von Entbehrung, Härte und Einsamkeit wird mir bewußt, plötzlich wird es drohend klar, daß ich mich inmitten der Wildnis, ohne Freund, ohne warme Hand, ohne ein weiches lichtes Geschöpf, das ich in den Arm nehmen könnte, befinde, einen gefährlich verstopften Weg zwischen mir und der gut bedienten Zivilisation. Lau dreht sich der Wind vom Uferrand los, die tierischen Laute bekommen einen menschlichen entbehrungsvollen Sinn, die Kargheit meiner Lage wird als Gegensatz empfindlich inmitten soviel überflüssiger Natur, die schweren vornehmen Düfte geben mir deutlich ihre Nutzlosigkeit für mich zu verstehen. Je wunderbarer die Nacht sich anläßt, desto ärmer komme ich mir vor. Wenn Slim endlich seinen Rippenstoß bekommt, um meine Stelle am Feuer anzutreten, bin ich ein Bettler und sinke hoffnungslos in einen überfüllten machtvollen Schlaf.

Aus Slims Plänen suchten wir uns zu orientieren; sie stammten von Reisenden, aus Büchern, oder bildeten das Kroki eines Regierungsbeamten, der seine vage Ahnung über die Lokation eines Platzes in dieser Art aufgemalen hatte. Eigentliche Karten gab es wohl, aber an den Punkten, die wir gebraucht hätten, waren sie offen. Wir selbst trugen einige markante Plätze ein so gut es ging. Unser Fluß wurde ein fingerslanger summarischer Strich, mit Ersparnis aller seiner Launen[33] und Beschränkung auf die jeweilige Hauptrichtung. Vermessungsapparate hatten wir nicht mit, denn unsere Expedition und ihr Ziel sollte ja geheim bleiben und auffallende Rüstungen in dem kleinen Nest, das unseren Ausgangspunkt bildete, hätten diese Vorsicht vereitelt.

Nichts ereignete sich; wir kamen soweit unangefochten durch. Die Langeweile begann sich aufzudrängen. Slim hatte nun einmal die fixe Idee von seinem Schatze und plagte sich sichtlich mit ihr ab; er grübelte und baute Spekulationen über Spekulationen. Ich gönnte seinem Yankeeblut diesen Rausch und war geschmeichelt darüber, daß er mir in ihnen eine bedeutende Stelle eingeräumt hatte. Diese Protektion machte mich stolz, ich war jung, geschmeidig, begabt für Abenteuer, und wenn ich in der heuchlerischen Tiefe meines Herzens auch nicht an unseren oder überhaupt an einen anderen Schatz glaubte als an den, der in einem großzügigen bürgerlichen Betriebe liegt, so war ich durch meine angelsächsische Bildungsstatt, einem amerikanischen Paukboden für Technik und Romantik im Nebenfach, auf jede Eventualpoesie dieser Reise präpariert. Aber wie gesagt, ganz menschlich fühlte ich mich nur in der altbewährten deutschen Skepsis des wahren Hans Brandlberger. Daß mir Slim gefiel, lag in dem gleichzeitig mit meiner Generation aufgekommenen Wunsche nach Renaissancemenschentum. Daß aber nebenbei ein gewisser Argwohn gegen das brillante Wesen dieses modernen Pizarro in mir lag, war vorerst nur natürlich. Doch hat mich diese Reise gelehrt, den Menschen zu verstehen. Gibt es für mich noch Überraschungen über mich oder irgendeinen meiner Art? Es ist unmöglich, die Beziehungen, die sich in dieser Phase zwischen Slim und mir ergaben, bürgerlich auszudrücken. Fragwürdig aber wird mir immer wieder sein, wie ich damals über all das Peinliche hinweg kam, das vor meiner Feder heute Barrieren aufrichtet. Ich sage vor Damen, die Hitze war es. Unter Libertinern will ich die Ansicht vertreten, daß wir alle Menschen sind und uns der Gefühle nicht schämen müßten, die uns die Sonne gegeben hat.

Als wir dem Oberlauf des Flusses zudrängten, vom zehnten Tage unserer Abreise an gerechnet, konstatierte ich an einem toten Punkte eine eigentümliche Stimmung, die alle Weißen überfallen hatte. Ich wurde plötzlich wach, meine Gewecktheit aber erfolgte durch eine blitzartige und befremdende Entdeckung. War es möglich, trugen Hitze und ungewohntes Klima die Schuld daran, oder mußte man seinen mannbarsten und treuesten Instinkten Mißtrauen entgegenbringen? Ich begann eine heftige Unruhe zu verspüren, einen Hunger nach Brutalität,[34] und ich fröhnte ihm, indem ich infam nach den Augen schwimmender Alligatoren schoß. Ich kannte mich nicht mehr aus vor Aufgeregtheit, ich verlangte nach einem rohen sinnlichen Glücke, nach einem deutlichen körperlichen Gefühle von Macht, und es kostete mich Zurückhaltung, den jungen Indianer nicht in den kräftigen Hintern zu treten. Einmal ging es wie ein Blitz des Verständnisses durch mich hindurch. Slim sah mich an, mit einem ellenlangen zweideutigen Blick. Mit einem solchen Blicke mustert man eine Sache, einen Sklaven, ein Pferd und nur in den letzten Fällen eine Frau. Es war der trübe Blick des Lebemannes. ich saß einen Augenblick lang leer und innerlich heruntergekommen da. Aber dann, nein, dann wurde ich nicht rot: ich wurde frech. Mein Innerstes kehrte sich zu einer empörenden Frechheit nach außen. Ich wurde stark physisch, eine Brutalität und ein selbstbejahender Wahnwitz von ungekannter Art ergriffen mich, ein manierierter Rausch des Sehens, der Betrachtung fleischiger, sich rhythmisch bewegender Körper durchrieselte mich mit Gesundheit. Also das gab es – ein ungeheurer abenteuerlicher Geschmack am Leben brannte mir auf der Zunge, in den Lenden, in den Fäusten. Blitzartig erschien die Straße einer glänzenden Stadt vor mir, Formen rührten sich unter Massen reklamemachender Stoffe und Schnitte und stürzten auf mich zu, alles Fleisch, das wie eine gigantische Maschine mit Kolbenstößen um mich herum rotierte, feierte zwischen Dämmerung und beißend weißem Lichte aus elektrischen Ampeln ein rasendes Fanale. Hier aber war's die Sonne, die betäubende Symbiose von Fäulnis und Pracht, der Atem des Verlangens, der Duft und Gestank der Wollust, der laszive Wille der allgemeinen Hingabe, die das Blut würzig, überleicht und sprengkräftig machten, daß es wie ein glühendes rotes Gas durch die Adern pfiff. Da erkannte ich – wir waren hungrig nach demütigen Leibern, aufgerieben von einer Überproduktion an Zärtlichkeit, indifferent inmitten von Tatsachen, die nichts boten. Ausgehungert waren wir. Es war der erste Anfall des schrecklichen Duldens, das den Mann überfällt, ganze Karawanen in den Wahnsinn treibt, wenn mit der letzten Grenze der Zivilisation auch der weiche Nacken des Weibes da hinten verschwindet!

Ich wandte mich um, ich wollte sehen, was van den Dusen so ruhig machte. In seinem ermatteten Gesichte lag der Stumpfsinn, und seine Augen waren krank und scheu, unsicher vom Verkehr mit schlimmen Lüsten, wie ich mir sagte. Er war stark zurückgegangen, im Gegensatz zu mir und Slim. Slim sah faul aus, aber er gedieh. Er setzte Fett an, und es stand ihm nicht schön, er hatte eine unsaubere[35] Art zu gedeihen, wie alle Körper, die auf Magerkeit angelegt sind. Er verbrauchte sichtlich die Stoffe nicht, die Milde und Muße des Lebens in ihm angesammelt hatten. Van den Dusen aber tropfte weg wie eine heiße Kerze. Die Hitze schlug ihm schwerlich an, vielleicht raubte ihm eine gewisse Entbehrung jene Behaglichkeit, die seinem Körper von Natur aus angemessen erschien. Wo war unser eleganter holländischer Offizier, der javanischen Damen und pazifischen Schönen den Hof gemacht haben sollte? Seine stattlichen Schultern waren eingeschmolzen wie ein Bronzebarren und ein Schlackenrest von Knochen und Schlüsselbeinen war geblieben. Das weiße Jackette saß schon lange nicht mehr knapp, und seine nußbraunen Haare, ein ehemaliger schnurgerader Offiziersscheitel und wie bei einem Frauenzimmer glatt um das marmorne Stirnbein gebügelt, waren eine Versuchung für jede Taschenschere. Der ganze wohlproportionierte Rundkopf trug die Spuren der Erschlaffung.

So erging es uns Weißen. Wir verwandelten uns im Verlaufe von vierzehn Tagen zu abnormalen Gebilden. Unsere Indianer aber blieben immer gleichmäßig hart, temperamentlos und mager. Sie strengten sich nicht an, aber sie blieben in Fassung und ließen sich vom Rhythmus treiben. Zorre, ein Fünfziger, war elastisch und besaß einen vollständig erhaltenen jungen Körper; im Gegensatz dazu war sein Gesicht borkig wie alte Rinde und von Tätowierungen zerfressen. Der andere war eine Schönheit, hieß Checho und mochte sechzehn indianische Sommer zählen. Dünn und lang war er wie ein Buchstabe. Ich hatte seinen Rücken vor mir. Im Nacken, um Fingersbreite getrennt, verliefen zwei parallele, strählige Längsnarben. Sonst war die rotbraune Haut glatt und geschmeidig und spannte sich über den kleinen Muskelschlangen, die während der Bewegung unter den Achselhöhlen hervorhuschten und sich blitzschnell wieder dahin zurückzogen. Dieser Rücken, der sich nach dem Gesäß zu schmachtend verengte, der kindliche Hals, die mädchenhaften Wirbel, dies graziöse Kaleidoskop bewegter Muskeln hätten einen Affen verliebt machen können. Der Bursche war ein junger Gott. Seine Schultern waren schmächtig und lagerten als volle Kugeln wohlgefaßt über der tiefen Brust. Der Schenkel, der schmal und strähnig war, wenn er stand, lag breitgedrückt auf dem Sitze. Die Knieknospe prangte schlank über der hochsitzenden Wade, mit hinreißendem Schwunge schnürte sie die Längslinie der Extremität ein. Dazu hieß er Checho. Seine Augen waren grün und schwarz und frisch aus der Hand des Juweliers, noch vollkommen unberührt, ungereizt, ein unbeeinträchtigtes[36] Oval. Er war ganz in Rhythmus getaucht, mit Rhythmus genährt und auferzogen, von Rhythmus betrieben und während seines ganzen Lebens vermutlich in eine wilde Sanftheit hineingeleiert. Dort wo bei uns das Gehirn sitzt, saß bei ihm eine präzise Taktmaschine.

Ich habe feste Anhaltspunkte, daß ich nicht der einzige war, der in ihm einen jungen Gott sah. Und wir verstanden uns, ohne uns sonderlich exponiert zu fühlen. Wir waren in der Wildnis und jedem Sinn war erlaubt, zu nehmen, was ihm paßte. An diesem Abend entspann sich das erstemal ein Gespräch am Lagerfeuer. Van den Dusen erzählte aus einem unerschöpflichen Borne schmutzige Geschichten, Witze vom echten Biertischkaliber mit bleischweren Pointen, und man hörte angeregt zu. Verhungert, wie wir waren, bot die Unterhaltung eine kleine Erleichterung. Theorien, wie es auf langen Expeditionen und auf Seereisen zu ergehen pflegt, wurden zum besten gegeben und diskutiert. Wie es der Kapitän hält, wie die Matrosen und wie die Männer ganz unten im Kielraum der Schiffe, dieser Auswurf der Menschen, wurde aus einzelnen Fällen anschaulich geschildert, und welche Rolle die Schiffskatze bei solchen Gelegenheiten zu spielen pflegt. Die Sehnsucht machte derb, die Unterwürfigkeit, die der Trieb unter günstigen Aussichten hervorzurufen pflegt, grausam. Ohne an dem Niveau zu leiden, auf das wir unsere Aussprache herabgeschraubt hatten, legten wir uns etwas froher als sonst in unsere Träume nieder.

Quelle:
Robert Müller: Tropen. München 1915, S. 28-37.
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