Wir wissen uns zu finden

[68] Parodirende Glosse.


Lerche als Thema.


Sollst nicht murren, sollst nicht schelten,

Wenn die Sommerzeit vergeht,

Denn es ist das Loos der Welten,

Alles kommt und Alles geht.


[68] Junge Frau.


Hör' ich's da nicht zwölfe schlagen?

Und er ist noch nicht zu Haus.

Ach, schon in den Flittertagen

Ist's mit seinem Lieben aus.

Hat er Pfeifen nur und Karten,

Mag zu Haus die Gattin warten:

Was bekümmert ihn ihr Schmerz?

Doch, er soll es mir entgelten! –

Still, er kommt, o still, mein Herz!

Sollst nicht murren, sollst nicht schelten.


Rosenwürmchen.


Kam der Sommer hergezogen,

Rosenblüthchen war dabei,

Bin ich hinterdrein geflogen,

Wußte nicht, ob's schicklich sei.

Rosenblüthchen, woll' mir geben

Nur ein Blättchen, drauf zu leben!

Sprach es: Klein ist dein Bewerben,

Doch gar schnell mein Duft verweht.

Sprach ich: Mit dir will ich sterben,

Wenn die Sommerzeit vergeht.


Philosophische Trösterin.


Schwester, trockne deine Zähren!

Hin ist hin, und todt ist todt.

Nichts bei uns kann ewig währen,

Heute bleich, was gestern roth.

Eins auch wolle noch bedenken:

Unglück kann zum Glück sich lenken,

Einen Bessern kannst du frein.

Reiche Witwen sterben selten:

Darum, Schwester, gieb dich drein,

Denn es ist das Loos der Welten.


Leipziger Gastwirth.


Ja, wenn's immer Messe wäre,

Und die Mess' auch immer gut,

Gab' ich mein Hotel, auf Ehre,

Nicht um einen Rathsherrnhut.[69]

Doch, schon kleiner wird die Schüssel,

Und ich seh' die vielen Schlüssel

Wieder hängen an den Wänden.

Drum, wer seine Kunst versteht,

Denke, wenn er's hat in Händen:

Alles kommt und Alles geht.

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 68-70.
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