6. Morgen

[35] In die grüne Welt hinein

Zieh' ich mit dem Morgenschein,

Abendlust und Abendleid

Hinter mir so weit, so weit!


Ei, wie roth deine Wangen sind,

Morgen, Morgen, süßes Kind!

Blümlein weinten die ganze Nacht,

Weil man dich zu Bett gebracht;

Mittag kam, der stolze Ritter,

Abend kam, der müde Schnitter,

Keinen haben sie angeschaut,

Haben still auf dich vertraut.

Und nun bist du wieder da,

Bist so freundlich, bist so nah!

Und sie richten sich empor,

Schütteln ab der Träume Flor.

Wie sie wanken, wie sie beben,

Scheu die trunknen Blicke heben!

War's dein Kuß, der sie erweckte?

War's ein Zephyr, der sie neckte?

Welcher Schrecken, welche Lust!

Mund an Mund, und Brust an Brust!
[35]

Guten Morgen, guten Morgen!

In die Winde alle Sorgen,

Alle Thränen von den Wangen,

Aus dem Herzen alles Bangen,

Alles froh und Alles frei,

Ob's der erste Welttag sei!


Auch die kleinen Waldvögelein

Wollen bei dem Feste sein,

Lassen ihre Stimmlein klingen,

Einen Gruß hinaufzusingen.

Wißt ihr, wer's am besten meint

Mit dem jungen Himmelsfreund?

Lerche sich zum Höchsten schwingt,

Und ihm grad' an's Herze sinkt.

Lerche, Lerche, einen Gruß,

Lerche, Lerche, Gruß und Kuß,

Nimm sie mit dir von uns Allen,

Und laß deine Stimme schallen,

Wenn wir dich nicht mehr ersehn,

Aus den lieben blauen Höhn!


Fischlein, Fischlein in dem See,

Wird's da unten euch zu weh?

Drang sein helles Rosenlicht

Noch in eure Tiefe nicht?

Ei, so springt einmal heraus

Aus dem düstern Wogenhaus,

Schnappt von seinen Äugelein

Einen Blick zu euch hinein,

Und die Lampen von Krystall

Zündet an mit seinem Strahl!


Morgenstund' hat Gold im Mund!

Arme Wandrer, rings und rund,

Auf und fort im Morgenschein,

Wollt ihr reiche Leute sein!

Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 35-36.
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