Heilige Nacht

[54] Eh der Stern von Bethlehem

noch im dunklen Tal erschienen,

lösten, Sklaven zu bedienen,

Fürsten schon ihr Diadem;

ahnend eine höhre Macht,

grüßten sie die heil'ge Nacht.


Eh das Licht der Welt genaht,

flammten schon in tiefer, scheuer

Waldesnacht die Sonnwendfeuer

himmelwärts; vom Bergesgrat

lohte talwärts ihre Pracht,

grüßend die geweihte Nacht.


Hoben Geisterhände nicht

in der Vorzeit heil'ger Feier[54]

den geheimnisvollen Schleier

von der Zukunft Angesicht?

Ahnte deiner Wunder Macht

schon die Welt, geweihte Nacht? –


Nicht auf einen kurzen Tag

ward die Freiheit dir erschlossen –

jauchze mit den Festgenossen,

Sklave, deine Kette brach!

Liebe hat dich frei gemacht –

beug dein Knie in heil'ger Nacht!


Nicht im unwirtbaren Raum

flammt die Glut der Sonnenwende,

unsrer Kinder zarte Hände

schmücken heut den Tannenbaum.

Schimmernd strahlt der Kerzen Pracht

– sei gegrüßt, geweihte Nacht!


Und durch klares Schneegefild,

schwebend auf des Mondlichts Wogen,

kommt ein Glockenton gezogen,

der die tiefste Sehnsucht stillt –

lenzhauchmild durch Winterpracht

klingt der Gruß der Weihenacht:


»Aller Menschheit, ruhelos,

schmerzbefangen, wahnverloren,

ward der Friede heut geboren[55]

aus der ew'gen Liebe Schoß! –

Die der Welt das Heil gebracht,

sei gegrüßt, geweihte Nacht!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 54-56.
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Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905