Das Märchen meiner Tage

[101] Da geht mir durch den Sinn die alte Sage

von jenem König, dem, was er berührt,

zu Golde ward: – das Märchen meiner Tage.


Als noch mein Geist, der Erdenfesseln frei,

in seliger Gefilde Wonne schwelgte,

trat lächelnd zu ihm der Erhörung Fei.


Ihr roter Mund verhieß ihm reichen Segen

auf seiner Pilgerfahrt: »Nun wähle dir

den Leitstern selbst auf deinen Erdenwegen.«


Vor meines Geistes Augen hingestreut

lag alles Glück und alle Herrlichkeiten,

die seinen Lieblingen das Leben beut.


Da funkelten des Reichtums Diamanten,

der Liebe Rosen blühten düftereich,

der Weltlust helle Opferfeuer brannten,


der Freundschaft Perlen glänzten auf der Schnur;

doch meinen Geist vermochte nichts zu locken,

als eines Himmelssternes Schimmer nur:


»Ob meinem Haupte strahlt der Stern der Lieder,

nimm hin des Reichtums Glanz, der Liebe Lust:

im Reich der Dichtung blüht mir alles wieder.


Und was dein Mund mir schönes bieten mag,

ich geb es freudig hin um seinen Schimmer,

ins tiefste Dunkel trägt er lichten Tag.
[102]

Nicht sorg ich mehr, daß ich den Heimweg finde:

was meine Hand berührt, wird Poesie –

o gib den Stern mir mit als Angebinde!«


Und lächelnd winkte der Erhörung Fei. –

Da sank ein dumpfer Schlaf auf meine Lider;

als ich erwachte, war der Traum vorbei.


Im dunklen Tal der Welt fand ich mich wieder;

und Zentnerlasten beugen mir das Haupt,

und Eisenfesseln drücken mir die Glieder.


Die glühende Bilderpracht des Lebens blinkt

vor meiner Sehnsucht fieberheißen Blicken,

wie durch die Wüste die Morgana winkt.


Der Freundschaft Lächeln hab ich nie empfangen;

wenn sie bei andern sich zu Gaste lud,

an meiner Tür ist sie vorbeigegangen.


Und selbst die süße Liebe pochte nur

zum Spiele an mein Herz; als ich geöffnet,

da fand ich nicht mehr ihrer Tritte Spur.


Und bange Töne klingen mir im Haupte:

im Liede glüht und blüht mir alles neu,

was mir die Welt versagte oder raubte,


der Winde Wehen klingt wie Melodie;

ob meinem Haupte strahlt der Stern der Lieder,

was meine Hand berührt, wird Poesie.
[103]

Du holde Fei des Himmels logst mir nimmer!

Du arge Fei, du hast mich nicht gewarnt,

daß meines Sternes Glück nur Schein und Schimmer, –


und daß ich mit des Daseins Fesseln auch

des Daseins Lust und Weh empfinden würde, –

ach, brennende Lippen kühlt kein Himmelshauch!


Heiß pocht mein Herz nach irdischem Glück und Lieben,

und will ich's fassen, faß ich Luft und Dunst,

und nur das Lied, das Lied ist mir geblieben.


Den Fischer neid ich, der vom Strande kehrt

mit raschem Schritt, die Last auf seinem Rücken:

daheim erwartet ihn sein Weib am Herd.


Den Bauer neid' ich mit der Hand am Pfluge:

er schaut im Geist der künftigen Ernte Pracht,

und frische Labung quillt aus seinem Kruge.


Und von der Dirne, die im Tanz sich schwingt,

wie tauscht ich gern für alle meine Lieder

die Rose nur, die ihr am Busen blinkt!


Wie gäb ich freudig die erträumten Schätze

für einen Trunk aus dieses Lebens Quell,

daß er die glühenden Lippen mir benetze!


Mir aber blüht die Lust der Jugend nie,

auf meinen Feldern reifen keine Früchte, –

was meine Hand berührt, wird Poesie.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 101-104.
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