Mainacht

[148] So geh ich einsam wieder meine Bahnen

im gleichen Schritt im kalten Dämmerlicht,

und selten treibt ein stummes Liebesahnen

das Blut mir noch ins bleiche Angesicht.
[148]

Das ist, wenn traumesselig in der holden

Frühsommerzeit das Herz der Erde klopft,

wenn langsam durch die blauen Fliederdolden

auf meine Stirn der Nachttau niedertropft.


Dann geht ein Raunen in den Dornenhagen,

um die das Mondlicht goldne Schleier webt,

daß, süß erschreckt von ahnungsbangen Fragen,

ihr junges Haupt die Rosenknospe hebt –


Dann schwillt empor aus dunklen Rätseltiefen

der Nacht ein Hauch und löst den Zauberbann

und rührt, die lange, lange klanglos schliefen,

die Saiten meiner Seele tönend an . . .


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 148-149.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905