Mit leisem Nicken

[127] An einem fernen, fremden Ort

war's, wo ich all mein Glück verloren;

ich ging, dich suchend, fort und fort

vorbei an festverschlossenen Toren.


Am fernen Horizont erblich

der Abendröte letzter Schimmer –

mit blutendem Herzen sucht ich dich

und suchte dich und fand dich nimmer.
[127]

Dann war's nach Jahren, als sich grau

das Haar um meine Schläfe schmiegte,

als auf der blütenleeren Au

der letzte Halm im Wind sich wiegte,


Daß wir uns trafen – daß du mir

von fern gewinkt mit leisem Nicken . . . . . . .

Ein Gruß von dir – ein Laut von dir –

ein Widerschein aus feuchten Blicken!


Und eh ich noch die liebe Hand

mit zärtlich festem Druck umfangen,

war schon dein Bild am Himmelsrand

wie Spätrotschein dahingegangen.


Da wacht ich auf. – Vor Sehnsucht blaß

sah Morgendämmrung in mein Zimmer;

mein Herz schlug laut, mein Aug war naß – – –

ich fühl's: ich seh dich nun und nimmer.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 127-128.
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