O, einen Sturm!

[113] O schilt nicht, daß mein Flug erlahmt,

daß farblos meine Lieder kranken:

mein Herz ward müde, stumpf mein Hirn,

zu stumpf für einen Glutgedanken.


Im öden Dünensand verweht

ist all mein Ringen – Lust und Fehle –,

es tönt wie müder Wogenschlag

das Lied aus einer kranken Seele.
[113]

O, einen Sturm, mein Gott, mein Gott,

daß er die Kraft mir neu belebe,

daß er in Blitz und Wetterschlag

von meinem Pfad die Nebel hebe!


Nur einen Strahl des Lichtes, Herr! –

Ich hebe aus den Eisenketten

den wundgeriebenen Arm empor:

noch kann mich deine Gnade retten.


Du schenktest einst im Morgengraun

ein köstlich Kleinod deinem Kinde,

ein Kronjuwel im Erdenstaub, –

nun hilf mir, daß es nicht erblinde!


Nun schließe du die finstre Kluft,

darin mein Bestes will versinken, –

den bleichen Schemen wehre, die

das Blut aus meinen Adern trinken!


O, einen Sturm, mein Gott, mein Gott,

daß er die Kraft mir neu belebe,

daß er in Blitz und Wetterschlag

den Bann von meiner Seele hebe!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 113-114.
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