Verlornes Glück

[129] Noch einmal, eh' am Himmelsrande

der letzte Sonnenblick verglüht,

zieht mich ein Sehnen an die Stätte,

wo meines Lebens Glück geblüht.

Durch hochgewölbte Gänge fluten

der Dämmrung Schatten kalt und bleich –

leis mahnend pocht wie Geisterfinger

ans Fenster ein Spireenzweig.


Und rings im Haus ein tiefes Schweigen,

wie ausgestorben jeder Raum . . .

An meiner Seite lächelnd wandelt

ein halbvergessner Jugendtraum;

von weltverlornen Küsten zaubert

entflohene Wonnen er zurück

und küßt mir in die müde Seele

ein letztes Bild vom Erdenglück.
[129]

Ein letztes Lied in diesen Räumen!

Der Herbstwind rast am Gartentor –

hier aber wogen Rosendüfte

und singt ein Nachtigallenchor.

Von all den süßen Liebesworten,

die schmeichelnd deine Lippe sprach, –

von meinen Seufzern, deinen Küssen

wird hier ein flüsternd Echo wach.


Der alte Zauber lockt mich wieder,

der Leib und Seele mir gebannt:

dein Odem über meiner Stirne,

auf meinem Herzen deine Hand!

Der Spiegel wirft im Dämmerschimmer

mir dein geliebtes Bild zurück – –

zum letzten Male trink ich wieder

aus deinem Born, verlornes Glück!


Und lauter tönt des Windes Brausen,

der Sonne letzter Strahl erblich;

ich aber berg in meine Hände

das Haupt und weine bitterlich.

Nun liegt die Nacht auf allen Wegen . . . . . .

und langsam wend ich meinen Schritt

und nehm aus den geliebten Räumen

mir der Erinnrung Sterne mit.[130]

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 129-131.
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