Befreiung

[69] Eine Kraft ist in mir frei geworden, die mit eisernen Ketten seit Jahrtausenden gebunden lag.

Gebunden in mir.

Eine Kraft, die ich mit flammender Seele erstrebt und mit brennenden Tränen erbeten habe . . .

eine Kraft, nach der meine Sehnsucht durch schwarze Höhlen suchen gegangen und auf bereifte Gipfel gestiegen ist . . .

eine Kraft, die mich in des Mannes Arme getrieben und auf meine verdürstenden Lippen den Schrei gelegt hat: »Herr – gib!«[69]

Aber die schwarzen Höhlen waren bewohnt von Schlangen und Ungetier, und auf den Bergen waren alle Kräfte tot.

Und der Mann gab mir wohl auf meinen zitternden Ruf; gleichzeitig aber nahm er auch von mir. Und da ich genauer zusah, erkannte ich, daß dem viel mehr war, das er mir genommen, denn das er mir gegeben hatte.

Da stieg ich hinab in die Hütte des Elends. Und als ich am Schmerzenslager des Weibes stand, das keine Milch in den Brüsten hatte und nicht wußte, womit es sein Kindlein nähren sollte, und das dennoch auf das Neugeborene mit einem leuchtenden Blicke herniedersah, in dem eine Welt von Kraft lag: – da fühlte ich ein Verwandtes erwachen und etwas frei werden in mir und los von einem ungeheuren Bann.

Und alle Sehnsucht war von mir genommen wie der Morgentau von der Mittagswiese.

Da erkannte ich, daß es die Kraft war, die ihre Schwingen in mir regte. Die Kraft, nach der ich irrend, blutend und blind die vielen Jahrtausende lang gesucht.

Und die Kraft in meinem Herzen hob ihr Haupt empor und riß meine Seele mit sich hinaus in eine reine, blaue, klingende Welt . . .

Ich nahm die Laute in meine Hände und sang. Sang von den Blicken des Weibes, die meine Ketten zerbrochen hatten und mich das Schaffen gelehrt.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 69-70.
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