Fata Morgana

[166] Wo Luft und Wasser sich verbanden

am fernsten blauen Himmelsrand,

ist wie durch Götterwink erstanden

ein neuer niegeschauter Strand.
[166]

Wo aus dem weichen Bett der Wogen

die Sommersonne jüngst erstand,

da wächst es auf zum Himmelsbogen:

ein Märchenreich, ein Wunderland . . .


Ich schau in duftumflossne Räume;

ein Kindersehnen ist erfüllt,

nun sich die Heimat meiner Träume

im hellen Lichte mir enthüllt – –


Des Ostwinds Rauschen in den Wipfeln

vernehm ich fast des Buchenhags;

ich seh auf schneegekrönten Gipfeln

das Leuchten des Mittsommertags!


Und tief im Tal, wo Nebel spinnen,

wo scheu die Märchenblume sprießt,

steht irgendwo mit goldnen Zinnen

das Königsschloß, das dich umschließt . . .

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 166-167.
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