Tannenduft

[168] Die Douglastanne streute ihren Duft

voll herber Würze in die Spätjahrsluft.

Die Düne barg uns vor des Nordsturms Wut –

tief war die Nacht, so tief wie Meeresflut,

wie Liebe tief.

Da rang aus feuchtem Moos

zu unsern Füßen sich ein Keimchen los

und senkte seine Fasern tief zum Grund;

und fabelhurtig wuchs es, Stund um Stund,

und trieb im Schnee – –

und nun der Sommer kam,

erblüht ein Baum hier, hoch und wundersam;

in seiner Zweige immergrünen Schlingen[168]

fängt sich der Wind, daß sie wie Saiten klingen;

aus seiner Krone aber bricht der Brand

der Flammenlilie aus dem Märchenland,

und Elfenkinder schweben hin und wieder

und gießen Duft aus vollen Schalen nieder,

so stark und süß, wie einst in Spätherbstnacht

der Tannenduft, der uns berauscht gemacht . . .


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 168-169.
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