Vision

[194] Zur lichtumflossenen Weihnachtszeit

wie doppelt schwer ist Menschenleid!


Wie doppelt tief ist des Elends Nacht,

wenn Lichtschein aus Palästen lacht!


Und ein Waisenkind im Winterschnee:

das Auge wird feucht, das Herz tut weh . . .


– Ich ging in die sinkende Nacht hinaus;

die Glocken klangen vom Gotteshaus.


In des Himmels blitzendem Diadem

strahlte der Stern von Bethlehem.


Und als ich schritt aus des Städtleins Tor,

stiegen die Nebel der Nacht empor.
[194]

Sie spannen mich ein – daß Gott erbarm'! –

von Schemen schien es ein bleicher Schwarm:


fahle Wangen und welke Gesichter,

liebehungernde Augenlichter,


tastende, gierende Bettlerhände –

und neue Scharen – und noch kein Ende . . .


Ein endloses Heer von Leidgenossen,

vom Feste der Liebe ausgeschlossen!


Und sieh: aus der Darbenden Reihen tritt

einer hervor wie mit schwebendem Schritt.


Ein König erscheint er im Bettlergewand.

Mit ruhvollen Augen, mit segnender Hand


– einen lichten Schein um das blonde Haar –

führt er die blasse, hohläugige Schar


durch die lärmenden Straßen, das Festtagsgebraus,

vor ein säulengetragenes, fürstliches Haus.


Durch die schimmernden Scheiben ins Dunkle bricht

eine Fülle von Glanz, eine Fülle von Licht, –


und Kinderjubel und Weihnachtslieder

klingen aus leuchtender Höhe nieder.


Vor den Türen die schenkenden Diener stehn:

»Heut soll kein Bettler vorübergehn . . .«
[195]

Er aber bückt sich mit stiller Gebärde

und sammelt die Brocken von der Erde:


»Ihr Herren der Erde, ihr Reichen an Habe,

am Feste der Liebe ist das eure Gabe:


ein christlich Almosen, ein gnädig Erbarmen –

und ich suchte das Recht für die Aermsten der Armen


und die Liebe, die voll aus dem Vollen gibt,

die nicht wägt und nicht rechnet, – die Liebe, die liebt!«


Und wendet sich stumm und weicht von hinnen,

wie fallende Nebel die Schatten zerrinnen . . .


Die Luft wird klar. Hoch im Zenit

ein schönheitschimmerndes Sternbild blüht


und gießt auf das ärmste, verfallendste Haus

die Fülle himmlischer Strahlen aus.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 194-196.
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