Das Fest der Blüte

[234] Durch Frühlingsstürme und Wolkenflor

bricht das ewige Licht hervor,

aus Blut erblühen die Rosen;

es kommt nach tausendjährigem Leid

ein Tag voll Maienseligkeit

den Fried- und Freudelosen.


Mit klirrendem Eise ging der Strom,

schwarz schattend unter dem Himmelsdom

lag die brütende Wolke;

doch Keime sproßten, des Lebens voll,

und ein Ahnen wuchs, und ein Sehnen schwoll

tief in dem fronenden Volke.


Und die Schollen trieben ins offene Meer,

die Donner rollten, wie Schicksal schwer;

grell sprühten die blauen Flammen;

ein Hammer fiel, und ein Eisen sprang:

ein tiefer, tönender Glockenklang

ruft die Freien zum Fest zusammen.


Zum Fest der Blüte, zum heiligen Mai!

Wer die Freiheit sucht und sie fühlt, ist frei,

und nährten ihn Disteln und Treber.

Er feiert mit uns. Und Sibiriens Eis

wird wie Dufthauch Italiens. Und lockend und leis

geht der Maiwind über die Gräber . . .
[235]

Kein Saatkorn ist tot. Und umsonst kein Blut

für die Freiheit vergossen. Wachsende Glut

wird die Aehren füllen und streifen.

Und feiern wir heute das Blütenfest:

die Sonne der Menschheit steigt, und läßt

unsern Enkeln die Früchte reifen.


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 234-236.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905