Dem Proletariat zum neuen Jahre!

[213] Noch breitet ihre dunklen Schwingen

die Nacht auf alle Gassen aus;

des Jahres erste Glocken klingen,

ein Grüßen geht von Haus zu Haus!

versinken soll, was schwach und trübe,

gesunden soll, was elend war –

viel fromme Wünsche bringt die Liebe,

viel frischen Mut die Hoffnung dar.


Doch alles Wünschen, alles Hoffen

ist machtlos wider eure Not;

der Zukunft Tore stehen offen:

sie deckt den Tisch euch ohne Brot.[213]

Sie füllt mit Wermut euch den Becher

und höhnt der Armut bittres Leid,

das nach dem Rechte, nach dem Rächer,

dem neuen Jahr entgegenschreit!


Das neue Jahr bringt keine Wende, –

wenn ihr nicht selbst die Helfer seid:

in euren Fäusten schläft das Ende,

in eurem Hirn die neue Zeit!

Erwacht aus dumpfen Sehnsuchtsträumen,

euch ruft der Tag, euch ruft die Tat –

schon schwillt der Lenztrieb an den Bäumen,

und unter Schneelast grünt die Saat!


Das neue Jahr bringt keine Wende,

kein Ruf erreicht ein gnädig Ohr:

auf Bruderrecht und Segenspende

vertraut der hoffnungsfrohe Tor.

Nur wer sich regt, dem wird es glücken,

die Freiheit hat, wer sie sich schafft –

erhebt das Haupt: auf eurem Rücken

tragt ihr die Welt! Ihr seid die Kraft!


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 213-214.
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Gedichte
Der Freiheit zu eigen: Gedichte 1884-1905