Landfriedensbruch

[224] Die Zeit ist hart und schwer die Not:

sie kämpften um den Bissen Brot,

sie hielten treu zusammen.

Die Krone schmückt das neue Haus,

doch ihnen blies der Nordwind aus

im Herd die letzten Flammen.
[224]

Hohl heult der Sturm, bang braust das Meer.

Von Süden trieb der Satan her

schwarzhaarige Kollegen . . .

Gell scholl der Pfiff der Eisenbahn,

die andern standen, knirschten, sahn

dem fremden Troß entgegen.


Der blonde Führer strich den Bart.

»Kollege,« sprach er heiß und hart,

»hier ruhen Stab und Kelle.

Die Arbeit ruht. In Stundenfrist

fahr heim, daher du kommen bist.«

Da lachte der Geselle.


Er höhnte: »Kerls, ihr seid wohl toll!«

Wie da das Blut zum Hirne schwoll

in jäh aufflackerndem Brande!

»Zurück!« – »Wir müßten Narren sein!«

Da sauste durch die Luft der Stein

vom deutschen Klippenstrande.


Und brüllend wie die Meerflut drang

ein Aufschrei rings. Schwer ging und bang

das Atmen der Sekunde . . .

Der Hunger schrie in schrillem Ton:

»Um Weib und Kind! Um Brot und Lohn!

Die Peitsche für die Hunde!«


Ein Schuß aus ihren Reihen fiel:

zu blutigem Ernste ward das Spiel,

und sie sind doch entkommen!

Nun höhnen sie von First und Schlot,

die letzte Mark, das letzte Brot,

sie haben es uns genommen!
[225]

Und als die Luft voll Christnachtsruch,

da standen wegen Friedensbruch

die Treuen vor den Schranken.

Da traf sie hart der Richterspruch,

da trugen sie in Nacht und Fluch

die tobenden Gedanken . . .


»Um Friedensbruch?! O, Weib und Kind,

euch ward als schlimmes Angebind'

das Hungertuch beschieden!

Die Ader schwillt, die Kette klirrt,

ein Glockenton die Luft durchirrt . . .

schlaft heut, nur heut in Frieden!«


Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 224-226.
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