Gesundung

[276] Nun fiel der Schlag. Nun hast du's leicht.

Ich hatte dir mit vollen Händen

des Lebens Seligkeit gereicht

und sah kein Ende meiner Spenden.


Und für die Rosen, die ich dir

um Stirn und Brust gewunden habe,

gabst du die Dornenkrone mir

als königliche Gegengabe.
[276]

Vor meine Augen schoß die Glut,

in meinen Schläfen fühlt ich klopfen

das lechzende Erlöserblut –

heiß rann's herab in roten Tropfen.


So ging ich blind im Mittagsglanz

und durch den Flackerschein der Blitze –

und deine Hand auf meinem Kranz

trieb tiefer nur der Dornen Spitze.


Und über Südlandsbergen zog

ein Wetter auf am Himmelsbogen,

und der Scirocco sang und bog

der Pinien Wipfel in die Wogen.


Da wuschen mir vom Angesicht

den blutigen Tau die Regengüsse,

da ward ich sehend, ward ich licht

und wissend, daß ich sterben müsse –


Und griff empor im letzten Schmerz!

Im Zucken eines ungebornen

schuldlosen Glückes Herz an Herz

riß ich vom Haupte mir die Dornen.


Und war gesund. Mit klarem Blick

schau ich in abendlichte Ferne.

Nimm deine Krone dann zurück –

und mich laß finden meine Sterne.

Quelle:
Clara Müller-Jahnke: Gedichte, Berlin [1910], S. 276-277.
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