An Amaliens Lieder

[102] O könnt' ich euch, ihr kleinen Lieder,

Doch jeder guten Seele weih'n!

Ihr seyd so sanft, so wahr, so rein,

Und hallt mir tief im Herzen wieder

Wie Flötenton im Hain!


Der Sprache feingewebter Schleier

Umwallt wie leichter Duft euch nur

Verräth auch die geheimste Spur

Von heiliger Empfindung Feuer,

Von Einfalt und Natur.


Euch schuf ein Genius der Trauer,

Die, wenn des Lebens Schwüle drückt,

Ins Land der Ruh' hinüberblickt,

Und selbst mit froher Ahndung Schauer

Von Gräbern Blumen pflückt.


Seit ihr, wie Abendglanz, o Lieder!

Der Seele Dunkel mir erhellt,

(Des Dankes stille Thräne fällt

Mir hier vom Auge) glaub' ich wieder

An eine Unschuldswelt.


Um diese schöne Welt zu finden

Muß man, eh' Lenz und Sommer fliehn,

Mit Blumen, die der Unschuld blühn

Der Grazien Altar umwinden,

Wie eure Sängerin.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 102-103.
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