Briefe über Kunst

V.


Sehr geehrter Herr Redakteur!


Der nördliche Orientale bezeichnet den Monat März als die »Zeit der Wolken«. Die Erde wehrt sich gegen den Himmel. Sie hüllt sich in nebeldunstige Schleier, um sich gegen seine Liebe, gegen sein Licht und seine Wärme einzupanzern. Sie vergißt von Jahr zu Jahr immer und immer wieder, daß diese Auflehnung zwar in der Natur ihres Materialismus liegt, sie aber doch nicht davor bewahrt, der Weltenseele gehorchen zu müssen. Sie ist überhaupt vergeßlich, diese liebe, alte Erde. Sollte sie jemals ein Gedächtnis besessen haben, so hat sie es verloren, vollständig verloren. Selbst wenn ihr einmal eine kleine, kurze Erinnerung aufblitzt, so stammt das nicht aus ihr selbst, sondern es kommt von oben. Sie weiß kein Wort mehr davon, daß sie sich durch die zusammenhängende Reihe ihrer Geschöpfe aus Stoff in Kraft, aus Kraft in Seele und aus Seele in Geist zu verwandeln hat, um auf diesem nicht etwa wunderbaren, sondern ganz und gar natürlichen Wege zu dem zurückzukehren, aus dessen Mund sie stammt.

Diese Vergessenheit haftet Jedem an, den sie, die Erde erzeugt. Auch kein Darwin und kein Häckel wird nachzuweisen vermögen, daß sich ein Mensch auf seinen Affen, ein Vogel auf seine Eidechse, eine Pflanze auf ihr Mineral besinnen kann! Darum bewegt sich unser Leben so tief unten an der Erde hin. Die Menschheit kriecht im Staube wie ein Wurm, wie eine Raupe, die nicht weiß, daß sie in Wahrheit dem Reiche herrlicher, geflügelter Wesen angehört. Was solche Würmer wohl bei sich denken, wenn sich, während sie die Rosen- und Blumenstöcke kahl fressen ein Falter[90] unter sie mischt, um süßen Nektar aus der Blüte zu trinken und sie dadurch zum Duften bewegt, ohne ihr zu schaden! Und ob es wohl hier oder da einen Sterblichen gibt, der das Unsterbliche, wenn es sich zu ihm herniederläßt, als verwandt empfindet und sich ihm nachzuschwingen strebt? Man behauptet, daß der Wurm nicht denken könne. So behauptet man auch, daß der Mensch nichts Göttliches zu erkennen und nichts Göttlichem nachzustreben vermöge, weil es überhaupt nichts Göttliches gebe. Aber ob die Raupe ihn sieht oder nicht, der Schmetterling ist da und wenn der niedere Wurm nicht denken kann, so denkt doch gewiß der höhere und eben weil er der höhere ist, so gedenkt er jedenfalls nichts anderes, als nur das Eine, nicht Wurm zu bleiben. Nicht Wurm bleiben wollen, heißt aber, sich auf das höhere Reich besinnen, dessen Gedächtnis der niederen Natur entschwindet.

Die verlorene Erinnerung an Himmlisches, an Ewiges uns zurückzugeben, ist Aufgabe nicht nur der Religion, sondern auch der Kunst. Beide trachten über die Nebel und Wolken des irdischen Märzes hinauf, beide streben nach jenen Strahlen und nach jenen Farben, die niemals dunkeln, sondern ewig bleiben, weil sie nicht von der Erde sind. Sie können auch in der Seele des Menschen nicht verlöschen. Ihr Verschwinden ist nur scheinbar, ist eine Folge irdischer Düsterheiten und Schatten, die unser Gedächtnis verschleiern. Wem es gelingt, diese Wolken zu durchdringen, vor dessen Auge zerreißt der Vorhang von Saïs, hinter dem nicht, wie die Heiden glaubten, der Tod gebietet, sondern, wie Christus verhieß, das ewige Leben herrscht.

Die Religion steigt durch die Hülle des Nebels in der ihr eigenen Weise direkt zu Gott empor. Sie glaubt an den persönlichen Weltenherrn und an seine Ewigkeit; das heißt, sie wartet nicht auf die Vollendung der Erkenntnis, die sich nach und nach entwickelt. Sie baut nicht langsam vorwärts schreitende Brücken von hier nach dort, sondern sie schwingt sich in einem einzigen, großen, kühn vertrauenden Bogen hinüber an das jenseitige Ufer, in die urbildliche Heimat alles dessen, was auf Erden nur ein Gleichnis ist. Wer seelische Schwungkraft besitzt, der kann ihr folgen. Wem sie fehlt, der muß warten, bis die Brücke fertig ist, an der die Wissenschaft ununterbrochen baut.

Anders die Kunst. Wir wissen, daß sie zwischen der Religion und der Wissenschaft vermittelt. Auch sie steigt empor, doch nicht über die Nebel, Schatten und Schemen hinaus. Sie hat das Irdische darzustellen und darf sich ihm also nicht, wie der Glaube, entziehen. Aber sie steht nicht in der Alltäglichkeit, nicht mitten unter den prosaischen Gegenständen, Sachen und Dingen, sondern hoch über ihnen, im Bereiche der Himmelssehnsucht, der Phantasie. In diesem Bereiche schwindet die irdische Vergessenheit. Die Wolken zerreißen von Zeit zu Zeit, und so oft sie es tun, strebt der Blick über sie hinaus nach dem Räthsel- und Sternenmeer der tausend Ewigkeiten. Es nahen sich von dort her Ahnungen. Es kommen Gedanken, die genau betrachtet, die Gestalt von Erinnerungen haben. Der Künstler nimmt sie in Empfang, um ihnen greifbare Form zu geben. Er schaut aus seiner Höhe auf das unter ihm Existierende. Unter seinem Blicke vereinigt sich das Einzelne zum Ganzen; das Zerstreute gewinnt Zusammenhang und es offenbart sich die Leitung und die Führung alles dessen, was geschieht. Er steigt in sein Arbeitsfeld hinab und je näher er ihm kommt, um so deutlicher wird in ihm die Erkenntnis, daß die Wahrheit, das Wesen der Dinge niemals von der Erde stammt, sondern daß diese nur die sinnlich wahrnehmbare, äußere Erscheinung dazu liefert. Dabei sagt ihm aber sein Gefühl, daß es grundfalsch wäre, die Erde deshalb Lügen zu strafen. Auch sie ist wahr, doch eben nur irdisch wahr, ungefähr so, wie das Sinnbild die Wahrheit dessen sagt, was es bedeutet, aber doch nicht ist. Und grad' die Kunst hat die Aufgabe zu lösen, die scheinbare Wahrheit der Form mit der wirklichen Wahrheit des Wesens in sichtbare Harmonie zu bringen. Bei diesem Bestreben des Künstlers verfeinert und verflüchtigt oder vielmehr vergeistigt sich der Stoff. Er verwandelt sich immer mehr und mehr in zart und duftig materialisierte Seele. Der Künstler empfindet das als ganz selbstverständlich. Er ist zwar erstaunt, doch nicht hierüber, sondern über sich selbst. Denn was durch ihn entsteht, ist ihm vollständig wesensfremd, taucht aber doch aus seinem eigenen Innern auf, um durch seine Hand zum objektiven, vollständig von ihm getrennten Gegenstand zu werden. Er sieht, daß er etwas geschaffen hat, was noch nicht vorhanden war. Und doch war es schon da! Aber wo? Wo kam es her? Aus der ursprünglichen Form, die vor ihm stand? Oder aus ihm selbst? Weder von hierher, noch von dorther; das weiß und fühlt er[91] ganz genau. Er kennt seine Aufgabe, in das Wesen der Dinge einzudringen, um das Aeußere mit dem Innern in Einklang zu bringen und nun will es ihm plötzlich erscheinen, als ob dieses Wesen gar nicht im Dinge selbst, sondern in weiter, weiter Himmelsferne zu suchen sei. Ist das ein Widerspruch? Oder nicht?

Es wurde gesagt, daß sich die Erde gegen den Himmel wehrt. Sie tut das besonders durch solche scheinbare Widersprüche. Sie wehrt sich ganz ebenso gegen den Künstler, wenn er, von fernher inspiriert, die schaffende Hand an ihre noch ungestalteten Formen legt, um sie an einst Vergessenes zu erinnern. Sie bemüht sich, ihn zu täuschen. Sie zaubert ihm die schönsten Linien, die herrlichsten Farben vor. Sie versucht durch alles Mögliche, ihn zu berücken und zu fesseln. Bei einem Künstler von Gottes Gnaden wird ihr das nicht gelingen; jeder Andere aber wird leicht auf jene »sogenannte« Kunst hinübergelenkt, die sich nicht mit Ewigkeitswerten befaßt und dennoch oder grad trotzdem bewundert wird. Der sogenannte »Erdgeruch« ist grad in der Gegenwart beliebt. Wolken – – – nichts als Wolken! Der Erde ihr Recht, sogar ihr volles Recht; doch ebenso und nicht weniger auch dem Himmel sein Recht und zwar sein, wie mir scheint, sehr wohlerworbenes Recht! Ich besuchte kürzlich mit meiner Frau ein Konzert der hiesigen königlichen Hofkapelle. Ein fremder Violinist, ein Künstler von Gottes Gnaden, trug ein Solo vor. Am Schlusse gab es stürmischen Applaus; wir beide aber blieben still. Meiner Frau standen die Augen voller Tränen und dann, als die tiefe Ergriffenheit überwunden war, sagte sie: »Mir war, als trügen diese Töne mich hoch und hoch und immer höher empor, bis an die Tür, aus der wir alle stammen. Ich kannte sie. Sie stand weit geöffnet. Die Erinnerung kam. Da war das Stück zu Ende!«

Mein sehr geehrter Herr Redakteur, sehen oder hören Sie irgend ein Kunstwerk, sei es welcher Art immer, und Sie haben das Gefühl, als ob die Wolken sich über Ihnen oder in Ihnen öffneten und die Erinnerung an den Augenblick eines früheren Daseins durch diese Spalte leuchte, so segnen Sie den Künstler, denn er ist ein gottbegnadeter Mann und der Moment, den er Ihnen zeigte, ist Wirklichkeit, ist Wahrheit, ist kein Trug.


Radebeul-Dresden, den 25. Febr. 1907.


Karl May.[92]


Quelle:
Briefe über Kunst. Von Karl May, In: Der Kunstfreund. 23. Jg. 1907. V. Heft, Innsbruck 1907, S. 90-93.
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