Das Hamaïl

Zwischen Bir el asuad und Ain tajib schwebte einer jener Sakrfalken, welche von den Beduinen vorzugsweise gern zur Jagd abgerichtet werden, hoch oben in der Luft. Seinen scharfen Augen wurde es nicht schwer, zwei Reiterzüge zu erkennen, welche in wohl stundenweiter Entfernung voneinander dem gleichen Ziele zuzustreben schienen.

Der im Osten sich südwärts bewegende Zug schien eine Kafila, eine Handelskarawane zu sein. Sie bestand aus vielleicht zwanzig Packkamelen und zehn berittenen Hedschahn. Acht der Reiter waren auf orientalische und zwei auf europäische Weise bewaffnet. Die ersteren trugen außer ihren dünnschaftigen Flinten noch lange Lanzen, deren breite scharfe Stahlspitzen im Lichte der untergehenden Sonne glänzten. Der Schech el dschemali, welcher als Führer voranritt, war der dunkelste von ihnen und hatte fast negerartige, keineswegs vertrauenerweckende Gesichtszüge. Die letzteren beiden hätte man für Europäer halten können, und wenn sie das nicht waren, so stammten sie gewiß wenigstens aus dem Gharb, einem der nordafrikanischen Gestadeländer.

Der Falke stieß hoch oben in der Luft einen lauten schrillen Schrei aus. Als der Führer denselben vernahm, glitt ein befriedigtes Lächeln über seine bisher unbewegten Züge.

»Chabir – Führer, hast du den Vogel gehört?« rief ihm einer der beiden zu.

»Na'm, Sihdi – ja, Herr,« antwortete er.

»Wäre der Falke ein zahmer, so müßten Menschen in der Nähe sein. Ich halte ihn für einen wilden.«

»Hehk – so ist's!« antwortete der Führer kurz, indem es wie Schadenfreude um seine aufgeworfenen Lippen zuckte.

»Wann kommen wir zum Ruheplatz?«

»'an kharihb – bald.«

»Und werden wir dort sicher sein?«

»S'lon bilamahn – wie in Allahs Schoß« –

Der im Westen sich fast parallel bewegende Zug war jedenfalls eine Kafilat et tayyara, eine fliegende Karawane. Sie bestand aus vierzehn wohlbewaffneten dunkelfarbigen Männern, welche alle sehr gute Reitkamele ritten. Eins derselben war ein kostbares graues Bischarihnhedschin. Derjenige, den es trug, schien der Anführer zu sein. Er hatte die Kapuze seines weißen Haïk zurückgeschlagen. Er war, wie seine Begleiter, ein Tedetu vom Stamme der Kra-an; doch zeigte sein kurzes wolliges Haar, daß Negerblut in seinen Adern floß, ein Umstand, dessen sich unter den Tibbu niemand zu schämen pflegt.

Auch er hörte den Schrei des Falkens.

»Ikh, ikh!« rief er, und auf diesen Befehl hielt sein Hedschihn an. Die anderen sammelten sich um ihn. »Hamdulillah – Allah sei Dank!« meinte er. »El Aswad führt sie uns in die Hände. Es ist ihm gelungen, sie zu täuschen. Wenn wir uns nun gerade nach Osten wenden, werden wir ihre Darb (Spur) erreichen und dieselbe lesen können. Ich werde den Sakr rufen.«

Er steckte einen Finger in den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Der Falke hörte ihn trotz der großen Entfernung und schwebte nach wenigen Augenblicken über den Reitern.

»Ta' ahl – komm her!« befahl der Reiter.

Der Vogel ließ sich gehorsam auf den hohen Knopf des Sattels nieder, wurde dort an einer Kette befestigt und erhielt eine lederne Haube aufgesetzt. Dann bogen die Reiter in einem rechten Winkel von ihrer bisherigen Richtung ab und hielten langsam gerade nach Osten zu, der Anführer immer an der Spitze des Zuges.

Als sie ungefähr eine halbe Stunde geritten waren, hielt er an, deutete in die Ferne und sagte nur das eine Wort:

»Hunahk – dort!«

Aus der Richtung, in welche er zeigte, sah man Lanzenspitzen schimmern. Die Vierzehn zogen sich vorsichtig hinter die Sanddünen, zwischen denen sie hielten, zurück und setzten erst nach einer Weile ihren Ritt fort. Bald erreichten sie die Spur der anderen Karawane. Der Anführer ließ sein Tier niederknieen und stieg ab, um die Fährte zu untersuchen.

»Dreißig Hawawihn (Tiere),« sagte er. »Es sind die, welche wir verfolgen. Am Bir Fetna wird Allah sie in unsere Hände geben, und dann werden wir die Beute teilen und reicher sein als je zuvor. Laßt uns ihnen jetzt langsam folgen, damit El Aswad uns nicht so lange zu suchen hat!«[278]

Es war klar: die vierzehn Reiter bildeten eine Gum, eine Raubkarawane, und El Aswad, der Führer der Handelskarawane, war ihr heimlicher Verbündeter. Er wollte diejenigen, welche sich ihm anvertraut hatten, in die Hände der Wüstenräuber liefern. Er hatte sich nur zu diesem Zwecke von den nichts ahnenden Reisenden als Chabir engagieren lassen. Daß die Räuber arabisch sprachen und nicht ihren Tedagadialekt, war ein Zeichen, daß sie ihre unheimlichen Züge weit über die Grenzen ihres Stammes hinaus zu unternehmen pflegten.

Während sie den Spuren folgten, erreichte die Sonne den Horizont; aber den Reitern fiel es gar nicht ein, anzuhalten, um das Abendgebet zu sprechen. Es wurde sehr schnell dunkel; dann stieg das Kreuz des Südens auf, und beim Scheine der Sterne wurde der Ritt fortgesetzt, bis die Kamele von selbst ihre Schritte beschleunigten; das deutete darauf hin, daß das Wasser er Oase in der Nähe sei. Der Anführer ließ halten. Seine Leute stiegen ab und lagerten sich im Sande. Da warteten sie mehrere Stunden lang, bis sich ganz in der Nähe das leise Bellen eines Fennek, eines Wüstenfüchschens, hören ließ. Der Anführer beantwortete dasselbe, und bald tauchte der Führer der anderen Karawane aus dem Dunkel auf. Der erstere empfing ihn mit den Worten:

»Seit einer Woche habe ich deine Stimme nicht vernommen, obgleich wir stets in deiner Nähe gewesen sind. Heute sind wir am Bir el amwat (Brunnen der Toten) angelangt, an welchem wir schon viele den Tod haben trinken lassen. Nun werden wir endlich erfahren, wer die Herren deiner Kafila sind.«

»Es sind zwei reiche Tuggar (Kaufleute) aus Tarabulus el Gharb (Tripolis), welche Waffen, Seide und andere Kostbarkeiten nach Bornu bringen wollen. Sie sind begleitet von sieben Beni Riah, welche wir nicht zu töten brauchen, weil sie sich nicht verteidigen werden. Von Temissa habe ich sie über Wau gerade in die Wüste geführt und dir nach dem Duar (Lager) Nachricht geben lassen. Jetzt schlafen sie am Bir Fetna (Brunnen der Akazien), und ich werde euch zu ihnen führen.«

»Welchen Namen tragen sie?«

»Der eine wird nur Abu el Hamaïl genannt, weil er zwei Kurans am Halse hängen hat, und der andere heißt Halef Ben Dschubar.«

Hamaïl ist ein Kuran, welchen man sich in Mekka kauft und dann zum Zeichen, daß man ein Hadschi ist, sichtbar am Halse trägt.

»Zwei Hamaïls? So war er zweimal in der Stadt des Propheten und ist ein sehr frommer Mann. Aber er wird dennoch heute sterben müssen, denn wir brauchen seine Sachen. Allah wird ihm das ewige Leben geben, und ich werde ihm einen Ihram weihen, wenn ich selbst nach Mekka komme. Auch mein Vater war zweimal dort. Er hatte zwei Hamaïls Eins davon hat er einem Manne geschenkt, welcher ihm das Leben rettete, als die Tuareg-Kel-Tinalkuhm ihn töten wollten. Allah danke es ihm im siebenten Himmel. Jetzt macht euch bereit, ihr Männer! El Aswad wird uns führen.«

Die Männer hatten nicht nur einmal einen Ueberfall ausgeführt. Sie wußten, was sie zu thun hatten. Sie entledigten sich ihrer weißen Haïks, durch deren schimmernde Farbe das Anschleichen erschwert gewesen wäre, und ließen auch die Schußwaffen zurück. Nur die breiten, scharfen, dolchartigen Sekakihn nahmen sie zu sich. Dann folgten sie dem voranschreitenden Verbündeten nach der nahen Oase.

Da, wo der Brunnen aus der Erde quoll, war er von einem Gebüsch ägyptischer Akazien beschattet, daher sein Name Bir Fetna. Die Reisenden hatten sich von ihren Kamelpaketen eine Art Umwallung gebaut, innerhalb deren sie schliefen. Das von trockenem Kamelsmist genährte Feuer war fast am Verlöschen. Alle schliefen nach dem anstrengenden Ritte fest. Sogar die Wache, welche in einer Ecke kauerte, zwei Lanzen in der Hand, war vor Müdigkeit eingeschlafen.


»Das ist das Hamaïl meines Vaters.«
»Das ist das Hamaïl meines Vaters.«

Der eben hinter den beweglichen Sanddünen aufgehende Vollmond beleuchtete die Scene mit südlicher Intensivität, vor welcher das Licht der Sterne verschwand. Er sollte den zwei Kaufleuten zum letztenmal leuchten.

Die Mitglieder der Raubkarawane legten sich zur Erde, von welcher ihre halb nackten, dunklen Leiber nicht zu unterscheiden waren, und schlichen sich unhörbar näher. Sie erreichten die Umwallung. Die Köpfe erhebend, blickten sie vorsichtig über dieselbe hinweg. Der Anführer wählte sich diejenige Stelle, an welcher die beiden Kaufleute lagen. Der eine derselben lag schnarchend auf dem Rücken, in seinen Haïk gehüllt. Der andere lag auf der linken Seite und hielt selbst im Schlafe sein Gewehr fest in der Hand. Da bog sich der Anführer über die Umwallung herüber und erhob seine Waffe zum tödlichen Stoße. Diesen Stoß erwarteten rundum seine Genossen, um dann unter fürchterlichem Geheul das übrige zu vollbringen.

Aber was war das? Der Tedetu hielt die Hand starr erhoben, stieß aber nicht zu. Sein Blick war auf ein Gepäckstück gerichtet, welches zu Häupten des Kaufmannes lag. Auf diesem wohlverschnürten Pack lagen zwei Bücher – zwei Hamaïls, welche der Schläfer vom Halse genommen hatte, um bequemer liegen zu können. Sie lagen nebeneinander, und dasjenige zur rechten Hand war an der Schnittseite des Buches mit einem starken, metallenen Schlosse versehen, dessen eigenartige Arbeit im hellen Mondenscheine sehr deutlich zu erkennen war.

»Essuwal 'an ehsch – was gibt's denn?« fragte leise einer der beiden, welche hinter dem Zögernden kauerten. »Stoß doch zu!«

»Allah akbar – Gott ist groß!« antwortete er, indem er den Arm sinken ließ. »Das ist das Hamaïl meines Vaters. Allah hat verhüten wollen, daß ich den Retter meines Vaters töte!«

»Waih! Willst du die große Beute fahren lassen? Ist er auch der Retter?«

»Ich werde es sogleich erfahren. Wenn er es ist, so Wehe einem jeden von euch, der es wagen sollte, einem dieser Leute ein Haar zu krümmen oder ihnen das kleinste Stäubchen ihres Eigentums zu rauben!«

Dann rief er laut:

»Hadschi Omar Ben Kuwwad Ibn Hanßari!«

Im Nu sprang der Schläfer auf.

»Wer ruft mich?«

»Bist du der, den ich nannte?«

Erst jetzt sah der Kaufmann, daß sein Lager von fremden Gestalten umringt war. Er nahm schnell sein Gewehr empor, antwortete aber:

»Ich bin es, wer seid Ihr?«

»Hast du dieses Hamaïl geschenkt erhalten?«

»Ja, von einem Scheik der Tibbu, Namens Arun es Saleta.«

»Das war mein Vater. Ich bin Nowad Ben Arun es Saleta. Der Engel des Todes streckte bereits seine Hand nach dir aus und da – – –«

»Allah Kerihm – Gott ist gnädig!« rief der Kauf mann erschrocken.

»Ja, Allah ist gnädig. Er hat dich errettet. Wir sind die Gum, und du befindest dich am Brunnen des Todes. Bereits schwebte mein Messer über dir, da erblickte ich das Hamaïl. Jetzt nun bist du bei uns so sicher wie unter den Zelten der Seligen, du, deine Begleiter und dein Eigentum. Und wir werden dich begleiten über die Berge und durch die jenseitige Hammada. Sag' nur das Wort, welches du zu sagen hast.«

Die Angreifer standen draußen vor und die erschrockenen Glieder der Handelskarawane innerhalb der Umwallung. Der Kaufmann erkannte die Gefahr, aus welcher ihn nur dieses Wort erretten konnte. Er sagte es:

»Dakilah ya Scheik – ich bin der Beschützte, o Herr!«

»Dakilah ya Scheik!« – riefen auch alle seine Gefährten.

»Ja, ihr seid die Beschützten!« antwortete der Räuber. »Ihr seid unsere Brüder. Das Hamaïl hat euch vom Tode errettet, und nun sagen wir euch den Gruß: Alah wa sahla wa marhaba – ihr sollt uns alle willkommen sein! – – –«[279]

Quelle:
Das Hamaïl. In: Der Gute Kamerad. 1. Jg. Nr. 19. S. 278–279. – Berlin, Stuttgart (1887), S. 278-280.
In: Der Gute Kamerad. Spemanns Illustrierte Knaben-Zeitung. 1. Jg. Nr. 19. S. 278–279. – Berlin, Stuttgart: W. Spemann (1887). Reprint in: Der Schwarze Mustang. Anhang: Die kleineren »Kamerad«-Erzählungen von Karl May. Einführung von Erich Heinemann. Hamburg: Karl-May-Gesellschaft 1991.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Das neue Lied und andere Erzählungen 1905-1909

Die Sängerin Marie Ladenbauer erblindet nach einer Krankheit. Ihr Freund Karl Breiteneder scheitert mit dem Versuch einer Wiederannäherung nach ihrem ersten öffentlichen Auftritt seit der Erblindung. »Das neue Lied« und vier weitere Erzählungen aus den Jahren 1905 bis 1911. »Geschichte eines Genies«, »Der Tod des Junggesellen«, »Der tote Gabriel«, und »Das Tagebuch der Redegonda«.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon