1.

[45] Wer da etwa glaubt, daß blos der Adelige seine Ahnen zählt und mit Stolz von den Verdiensten seiner Vorfahren spricht, der befindet sich in einem gar gewaltigen Irrthume, denn die Pietät, welche so gern nach rückwärts blickt auf die Reihe der Urältern, um ihrem Beispiele nachzuahmen, ist einem jeden Menschen eigen, nur bei dem Einen mehr oder weniger ausgeprägt als bei dem Andern und vom Kaiser bis herab zum Nachtwächter durch alle Abstufungen der Gesellschaft zu bemerken.

Bis herab zum Nachtwächter?

Jawohl! Und wer das etwa nicht glaubt, der mag nur nach Ammerstadt oder nach Wummershausen gehen, um von der Wahrheit der obigen Behauptung vollständig überzeugt zu werden.

Beide Städte liegen etwas über zwei Stunden weit von einander entfernt, und die Verbindung zwischen ihnen wird durch einen Stellwagen erleichtert, welcher täglich zwei Mal hin und zurück geht. Die Straße, welche er dabei zu benutzen hat, ist zu beiden Seiten mit hohen Pappelbäumen eingefaßt, geht immer in schnurgerader Richtung fort und würde auch nicht die mindeste Abwechslung bieten, wenn sich nicht grad auf der Hälfte des Weges ein Wirthshaus präsentirte, auf dessen Schilde in vielfach verwitterten Lettern die Inschrift »Gasthof zur goldenen Ente« zu lesen ist.

In Ammerstadt, ganz draußen im letzten Hause, wohnt der ehrsame Schuhmachermeister Hillmann, welcher von den Vätern der Stadt mit dem wichtigen Amte betraut worden ist, über das nächtliche Wohl seiner lieben Mitbürger zu wachen, und in Wummershausen, ganz draußen im letzten Hause, wohnt der ehrsame Schneidermeister Bachmann, welcher von Abends zehn bis früh vier Uhr zu sorgen hat, daß Nichts geschehe, was dem Glücke der ihm anvertrauten Menschenkinder Gefahr bringen könnte.

Hillmann und Bachmann, das ist nicht etwa nur so von ungefähr, sondern die beiden Nachtwächter sind auch wirklich Männer, die Etwas zu bedeuten haben, und es ist wahrhaftig kein Spaß, für die Sicherheit einer ganzen Stadt die Verantwortung zu tragen. Und diese Verantwortung ist nicht etwa erst neueren Datums, sondern sie hat auf den Familien gelegen schon seit Menschengedenken, da die Hillmanns in Ammerstadt und die Bachmanns in Wummershausen das Nachtwächteramt bekleidet haben, so lange überhaupt von einem Hillmann oder Bachmann die Rede gewesen ist. Ist es daher ein Wunder, daß sie stolz sind auf die Wohlthaten, welche von ihren Familien ausgegangen sind, und daß sie ihren Dienstspieß als eine Reliquie betrachten, welcher mehr Ehre gebührt als selbst dem berühmten Backzahne des heiligen Laurentius? –

Heut ist der zweite Weihnachtsfeiertag. Draußen schneit es, was nur immer vom Himmel herunter will, drin in der Stube aber knistert und pufft es in dem alten Kachelofen, hinter welchen auf dem Großvaterstuhle ein Mann sitzt, den wir uns etwas näher betrachten müssen. Lang und dürr, ja, fast übermäßig lang und dürr ist die hagere, ausgetrocknete Gestalt; lang und dürr sind die beiden Beine, welche in einem Paar Lederhosen stecken, die früher einmal schwarz gewesen sind, jetzt aber in allen möglichen Farben schimmern; lang und dürr sind die Arme, mit denen er, jetzt grad in einer Rede begriffen, wie mit Windmühlenflügeln in der Luft herum gesticulirt; lang und dürr ist auch das Gesicht, aus welchem eine Nase hervorragt, deren scharfen Rücken man sofort als Rasirmesser benutzen könnte, während die graden und dünnen Lippen und die kleinen, unruhig funkelnden Augen auf einen Charakter schließen lassen, mit dem nicht gut Kirschen essen ist. Lang und dürr ist Alles an ihm, nur nicht das zweifelhafte Kleidungsstück, welches nicht viel mehr als die Hälfte seines Oberkörpers bedeckt und in ein Paar Aermel mündet, welche die gefährliche Passage über den spitzen Ellbogen hinweg schon seit langer Zeit nicht mehr gewagt zu haben scheinen.

Dieses Ding war zu Urgroßvaters Zeiten einmal ein Pelz und hat gar manchen, manchen Sturm erlebt, was am Ende nicht viel zu bedeuten hätte, denn so eine alte, gutwillige Schafhaut vermag schon Etwas auszuhalten, aber – die Motten, die unglückseligen Motten, die haben den Amtspelz der Hillmänner von jeher zu ihren Sommerlogis gemacht, und da sie immer eine besondere Vorliebe für die untere Parthie desselben hatten, so waren dort regelmäßig mit Anfang Dezember die Haare verschwunden, der zerfressene Streifen mußte abgeschnitten werden, der Pelz wurde von Jahr zu Jahr kürzer und stieg endlich an der langen Gestalt seines jetzigen Besitzers so weit in die Höhe, daß zwischen seinem untern Saume und der Hosenschnalle ein zärtliches Verhältniß entstand, welches bei den Angehörigen des Nachtwächters ein solches Aergerniß erregte, daß sie sich entschlossen, dem Gatten und Vater einen neuen Pelz zum heiligen Christe zu geben.

Da aber waren sie schön angekommen, denn der Beschenkte erblickte in der Liebesgabe eine Realinjurie auf das bisher so heilig gehaltene Erb-Mottenquartier und befand sich eben jetzt dabei, diesem Letzteren eine feurige Lobrede zu halten.

»Ja ja, so gehts! Zwölf Hillmanns, hört Ihrs,[45] ein ganzes Dutzend Hillmanns sind hinter einander Nachtwächter gewesen und haben den Schafpelz getragen und in Ehren gehalten; Keinem ist er zu kurz gewesen, und mir auch nicht, denn was ihm eigentlich an der Länge fehlt, das habe ich zu viel, und nun plötzlich soll er nicht mehr gut genug sein. Heiliger Knieriem, ich weiß schon, worauf das hinzielt!«

»Worauf anders solls denn hinzielen,« sprach die Frau, welche am Tische saß und strickte, »als daß Du des Nachts nicht mehr so frieren sollst!«

»Frieren? Wer hat Euch denn weiß gemacht, daß michs friert, mich, den dreizehnten Hillmann? Nichts da – mich macht Ihr nicht dumm! Weil der Bachmann, der Großthuer, vor'm Jahre von seinem Mädel einen neuen Pelz gekriegt hat, soll ich nun auch mich mit einem so unnützen und theuren Dinge in der Welt herumschleppen. Heiliger Knieriem, daraus wird nichts! Euch zu Liebe will ich ihn heut noch einmal anziehen, dann aber ists ab!«

»Ich weiß gar nicht, was Du nur immer mit dem Bachmann hast! Der wohnt in Wummershausen und Du in Ammerstadt; Ihr geht Euch einander nichts an, und – –«

»Thu doch nur nicht, als ob Du nichts wüßtest! Aber Ihr sollt Euch alle Beide doch verrechnet haben mit Euern saubern Plänen, die Ihr da hinter meinem Rücken schmiedet!«

»So! Was wären denn das wohl für Pläne?«

»Höre, bringe mich nicht in die Wolle zum zweiten Feiertage! So eine Frau thut, als könne sie kein Wässerchen trüben, und dabei hat sie es hinter den Ohren und hilft dem Jungen noch in seinen Dummheiten.«

»Aha, jetzt komme ich auch an die Reihe!« klang es vom Fenster her, wo der Sohn Hillmanns, ein hübscher, kräftiger, etwa zweiundzwanzig jähriger Bursche stand.

»Ja freilich kommst Du auch noch an die Reihe, du Taugenichts – oder willst Du mir etwa sagen, von wem Du die schönen gestickten Hosenträger gestern geschenkt bekommen hast?«

Der junge Mann konnte eine leichte Röthe nicht verbergen, welche sein Gesicht überzog, und verzichtete auf eine Antwort.

»Nun? warum wirst Du roth? Warum stehst Du nicht Rede und Antwort? Nicht wahr, ich habs getroffen? Denkst Du denn, ich hätte das M.B. nicht gesehen, was mit draufgestickt ist, und wüßte nicht, daß das ›Minna Bachmann‹ heißen soll?«

»Aber was hast Du denn eigentlich gegen das Mädchen?« fragte der Sohn.

»Gegen das Mädchen? Heiliger Knieriem, nicht nur gegen das Mädchen habe ich was, sondern die ganze Sippschaft kann mir gestohlen werden! Ihr Alter bildet sich Wunder was darauf ein, daß er der vierzehnte Bachmann ist und ich erst der dreizehnte Hillmann; ein einziger Bachmann wäre ebenso viel werth wie zehn Hillmänner, hat er gesagt, und über meine neue Schnarre hat er sich auch sehr lustig gemacht und mich deshalb einen Bretzeljungen genannt. Soll ich das etwa ruhig hinunterschlucken? Uebrigens sind schon zur Zeit des starken August die Hillmänner den Bachmännern nicht grün gewesen; im siebenjährigen Kriege haben zwei neben einander gedient und sich wegen eines Mädchens bald todtgeschlagen; nachher, als die Franzosen gekommen sind, ists wieder so gewesen; da ist in der Schlacht bei Leipzig ein Hillmann – und das war der Großvater, Gott habe ihn selig – mit übergegangen, und ein Bachmann – das war auch dem Jetzigen sein Großvater – bei Napoleon geblieben, und das hat später vielen Streit gemacht. Und jetzt – jetzt, da ists nun reine ganz aus, ich bin nationalliberal, und er hälts mit dem Fortschritt, wie ich mir habe sagen lassen. Hahaha, Fortschritt – und lacht über meine Schnarre! Ich als Nachtwächter kann doch gar keinen größern Fortschritt machen! Mag der Kerl immerfort in sein Ochsenhorn hineinduten, aber mich laßt in Ruhe mit ihm!« – – –

Grad um dieselbe Zeit saß auch Bachmann hinter seinem Ofen, hatte die fetten Hände um das dicke Bäuchlein – ein seltsames Naturstück bei einem Schneider – geschlungen, sah behaglich dem Treiben der Schneeflocken zu und warf dann zuweilen zur Abwechslung einen liebevollen Blick auf die beiden Frauen, welche eben bemüht waren, einen warmen Kaffee nebst Zubehör auf den Tisch zu stellen.

»'S ist doch nirgends schöner in der Welt, als im Bette und hinter dem Ofen!« sagte er. »Wenn man bei solchem Heidenwetter die ganze Nacht da draußen herumlaufen muß, da merkt mans erst, was ein Bett und ein Ofen in der Weltgeschichte zu bedeuten hat. Es geht doch nichts über etwas Warmes, besonders im Winter!«

»Da hast Du Recht, Alter! Drum komm her, ehe der Kaffee wieder kalt wird!«

Er folgte der freundlichen Aufforderung seiner sorgsamen Hausfrau, und die Beharrlichkeit, mit welcher er zulangte, zeigte, wie trefflich ihm der Weihnachtskuchen mundete.

»Das ist aber doch keiner von Unserm?« fragte er, ein ganz besonders appetitliches Stückchen, welches er eben in seiner Hand behielt, betrachtend.

»Der ist vom Herrn Bürgermeister. Er schickte vorhin einen ganzen Teller voll für das hübsche neue Lied, was Du gestern Abends gesungen hast.«

»Ach so!« rief er lachend. »Na, da hat mir die Schnurre doch 'was eingebracht!«

»Was wars denn für ein Lied?« fragte die Tochter neugierig.

»Habs selber gemacht; wirst's schon auch noch hören!«

»Ja,« meinte die Frau stolz, »so ein Nachtwächter[46] ist 'was werth, der sich seine Lieder selber machen kann. Da kann man Jedem vor seinem Fenster 'was singen, was er gern hört und was auf ihn paßt, und darum haben sie Dich auch alle so gern. Ich glaube, das hat noch kein Hillmann zusammengebracht.«

»I bewahre. Die zwölf Hillmänner sind ganz brave Leute gewesen, aber eine poetische Ader hat Keiner gehabt, und der jetzige, der dreizehnte, erst recht nicht. Ich möcht nur wissen, wie man mit so einer dummen Holzschnarre laufen kann; das hat doch weder Saft noch Kraft!«

»Ich kenne ihn noch gar nicht so recht; aber sein Sohn, der Eduard soll ein braver und auch ein schmucker Bursche sein.«

»Soll?« fragte Bachmann mit einem pfiffigen Gesichtsausdrucke. »Höre, Alte, Du willst doch nicht etwa erst jetzt anfangen, mir Flattusen vorzumachen! Wer hat denn am Tage vor dem heiligen Abende hier an dem Tische mit Rosinen gelesen, he? Wer ist denn nachher hier in Wummershausen in den Metten gewesen – giebts etwa in Ammerstadt keine Kirche? Wer hat denn gestern da der Minna die neuen goldenen Ohrglocken zum heiligen Christ gegeben, he? Und wer will denn heut Abend in die ›goldne Ente‹ kommen, wohin unser junges Volk zu Balle läuft und wenns meinetwegen unterwegs Heugabeln schneit? Na, so antworte doch!«

Trotz dieser Aufforderung blieb sie die verlangte Antwort schuldig, und auch das Mädchen blickte verlegen vor sich nieder.

»Ja, da sitzt Ihr nun und könnt nicht bis drei zählen! Ihr denkt Wunder, wie gescheidt Ihrs angefangen habt; aber ein Bachmann läßt sich nicht so leicht an der Nase herumführen.«

»Na, so zanke nur nicht, Alter! Wir habens ja nicht bös gemeint.«

»Zanken, das fällt mir gar nicht ein« meinte er gutmüthig. »Mit Euch kommt man damit nicht weit. Aber denken konntet Ihr es Euch doch, daß ich es endlich auch erfahren mußte.«

»Wir wollten erst sehen, wie's der Eduard meint, ehe wir Dir etwas davon sagten.«

»Papperlapapp, der meints natürlich ehrlich! Das habt Ihr gleich von Anfang an gar nicht anders gedacht, denn bei Euch Weibsleuten meints eben ein Jeder ehrlich. Na, ich kann gegen den Jungen gar nichts haben und menge mich auch gar nicht in die Geschichte. Habe mehr zu thun, als mich um Eure Liebelei zu bekümmern. Aber viel wird nicht draus werden, denn der Hillmann kann nun einmal die Bachmänner nicht leiden, und was der will, das will er. Der hat seinen Kopf für sich!«

Quelle:
Die beiden Nachtwächter. Original-Humoreske von Karl May. In: Neuer deutscher Reichsbote. 1878. S. [45–52]. – Stolpen (1877), S. 45-47.
Lizenz:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon